Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie
Dachverband Gemeindepsychiatrie
Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen
Psychiatrie Verlag

Rehabilitation und Teilhabe wie aus einer Hand

Die Diskussionen um Inklusion sind in Deutschland und vor allem in Psychiatrie und Selbsthilfe hierzulande spätestens seit der Ratifizierung der UN­Behinderten­rechtskonvention (UN­BRK) 2009 in vollem Gang. Ein Versuch, sozialrechtlich auf die Forderung nach Inklusion und Teilhabe zu reagieren, war das Bundesteilhabegesetz (BTHG), das in mehreren Schritten von 2017 bis 2023 in Kraft trat. Das BTHG sollte das Sozialgesetzbuch IX gemäß der konkreten Forderungen der UN­BRK anpassen und er­weitern. Man mag nun viel darüber strei­ten, ob und wie dieses Gesetz als gelungen erachtet werden kann (vgl. Kellmann 2017). Entscheidend ist jedoch, wie sehr es in der psychiatrischen und psychosozialen Praxis zur tatsächlichen Ermöglichung von Teilha­be genutzt wird.

Um das Potenzial des BTHGs aufzuzeigen, haben Michael Konrad und Sandra Dell­mann dessen Anwendung anhand einer einzelnen Person, der Co­Autorin selbst, konkret durchexerzieren – wie der Unterti­tel schon sagt: »Vom Gesetz zur Praxis«. Das Buch gliedert sich in zwei Teile mit mehre­ren Unterabschnitten: Im ersten Teil wer­den zunächst psychiatriehistorischen Hin­tergründe zur Trennung von medizinischer Akutbehandlung und Rehablitation darge­stellt, wie sie sich analog in der Trennung in zwei Sozialgesetzbücher (SGB V und SGB IX) abbildet. Die UN­BRK und die International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) werden hierbei als gewisserma­ßen brückenbildende Elemente dieser problematischen Aufteilung ins Feld geführt. Denn während die Krankengeschichte von Betroffenen zu großen Teilen das Produkt medizinischer Diagnostik und Therapie ist, soll es bei der ICF vor allem um die ausgewo­gene Einschätzung von Teilhabeproblemen und ­kompetenzen im Bezug auf die jewei­lige Umwelt gehen – der Fokus wird damit von Krankheit und Defizit auf die Fähig­keiten und die Rehabilitation einer Person in ihrem sozialen Kontext verschoben, und damit letztlich von der Krankengeschichte hin zu einer Lebensgeschichte, in der eine psychische Krankheit integriert und zu­gleich überschritten werden soll – raus aus der Klinik und dem klinischen Blick also. Es überrascht nicht, dass die Autor:innen ihre Ideen folgerichtig in der Linie des Re­coverykonzepts sehen. Originell scheint mir besonders, dass sie Recovery so eng mit den unterschiedlichen Paragrafen der Sozialge­setzbücher auf Tuchfühlung bringen.

Teil zwei veranschaulicht dann Wirklich­keit und Utopie von Teilhabe und Rehabi­litation anhand der Geschichte von Sandra Dellmann. Der Autorin muss hier großen Respekt für die Offenheit über ihre psy­chischen Krisen, biografischen Umbrü­che und Genesungsanstrengungen gezollt werden. In der Tat macht dieser zweite Teil den bislang eher abstrakt gehaltenen Vorlauf nun deutlich lebendiger und reali­tätsnäher – auch insofern, als er zeigt, wie zahlreiche Therapie­ und Rehabilitations­ansätze in Dellmanns Vita bisher schei­terten. Erst durch Dellmanns entschlossene Inanspruchnahme des BTHGs ab 2018 trat eine Wendung ein. Diese Wendung wird in einzelnen Schritten, von der Bedarfser­mittlung qua ICF über die Teilhabeplanung und Teilhabezielvereinbarung mit einzel­nen Leistungserbringern durchgespielt. Die Falldarstellung ist so abschließend auch ein leuchtendes Beispiel der Hoffnung – ein Be­griff, der im Buch immer wieder auftaucht – darauf, dass bei voller Ausschöpfung der gesetzlichen Bedingungen aus einer Kran­kengeschichte wieder zurück ins Leben ge­funden werden kann.

Mir persönlich gab die Lektüre vor allem als Psychiater zu denken. Mir wurde klar, wie wenig ich mich mit den Inhalten der ver­schiedenen SGB und deren Möglichkeiten auskenne. Dabei war ich zum Teil mit den Ausführungen im Buch auch überfordert und hätte mir die eine oder andere zusätz­liche Übersichtstabelle »für Dummies« gewünscht. Andererseits verweist meine Unkenntnis auf ein allgemeineres Problem, mit dem ich, wenn ich mich in meinem Kol­legium umsehe, nicht allein bin und das das Buch andressiert: Viel zu sehr stecken Fachpersonen, gerade jene mit mehr Ent­scheidungsmacht, noch im klinischen und defizitorientierten Denken fest. Sie sehen in ihrem Gegenüber vor allem einen kran­ken Patienten mit zu behandelnden Symp­tomen anstatt eine Person mit Problemen und dem Bedürfnis nach Teilhabe an ihrer Lebenswelt – einer Teilhabe, zu der sie auch mit ihren Beschwerden selbst im Stande ist und dabei unterstützt werden sollte. Diese Fokusverschiebung ist noch lange nicht voll­zogen. Konrads und Dellmanns Buch gibt hierzu wichtige Anstöße und zeigt, welches Potenzial im BTHG steckt.

Samuel Thoma in Sozialpsychiatrische Informationen

 

Letzte Aktualisierung: 19.07.2024