Geschätzte 250.000 Männer in Deutschland haben eine sexuelle Präferenz für Kinder. Sie leben mit dem Risiko drohender Straffälligkeit wie auch, wenn ihre Vorliebe bekannt wird, radikaler gesellschaftlicher Ächtung. Vor allem aber geht von ihnen eine Gefahr aus für Kinder – wenn sie nicht dauerhaft und zuverlässig darauf verzichten, ihre Sehnsucht auszuleben.
Pädophilie ist eine Störung der sexuellen Präferenz, eine psychische Störung, die sowohl in der ICD-10 als auch im DSM-5 erfasst ist. Die Krankheitswertigkeit begründet sich daraus, dass sie der betroffenen Person oder ihrem Umfeld Leiden verursacht. Für die Entstehung gibt es – wie so oft – keine einfache Erklärung. Noch am ehesten hilfreich sind Modelle, die sowohl Anlage- als auch Umweltfaktoren berücksichtigen. Eine therapeutische Korrektur ("Umerziehung") hat keine Aussicht auf Erfolg. Wie aber kann man den Betroffenen helfen und potenzielle Opfer schützen?
Erst seit 2005 gibt es das Präventionsnetzwerk "Kein Täter werden", das in der Öffentlichkeit unter anderem mit dem Slogan "Lieben Sie Kinder mehr, als Ihnen lieb ist?" auf sich aufmerksam macht. Die von dem Netzwerk angebotenen Hilfen zielen darauf ab, "Probleme im Umgang mit der sexuellen Neigung zu bewältigen. Dazu gehört insbesondere, das eigene Verhalten so zu kontrollieren, dass es zu keinem sexuellen Übergriff auf Kinder kommt. Im Verlauf der Therapie erlernen die Teilnehmer daher die angemessene Wahrnehmung und Bewertung ihrer sexuellen Wünsche und Bedürfnisse, die Identifizierung und Bewältigung gefährlicher Entwicklungen und Strategien zur Verhinderung von sexuellen Übergriffen" (vgl. www.kein-taeter-werden.de).
Mit "Herausforderung Pädophilie" legen Claudia Schwarze und Gernot Hahn jetzt ein umfangreiches Sachbuch zum Thema vor. Ihr Anspruch: "Dieses Buch steht allen zur Seite, die auf verantwortungsvolle Weise sexuelle Übergriffe auf Kinder verhindern und der gesellschaftlichen Isolation von Menschen mit pädophiler Ausrichtung entgegenwirken wollen. Denn niemand sucht sich seine sexuellen Präferenzen aus." Konsequent parteilich bleibt das Buch auf dieser Linie, bleibt an der Seite der gefährdeten Kinder und eben auch an der Seite der Risikopersonen.
Beispielhaft dafür steht ein Satz aus dem Vorwort: "Jede Person, die mit diesem Schicksal lebt, ohne es auszuleben, verdient großen Respekt und Unterstützung durch das unmittelbare Umfeld und die Gesellschaft." Diese Haltung trägt das Buch auch in sich, indem zwei Betroffene (unter den Pseudonymen Max und Newman) ihre eigenen Erfahrungen beisteuern. Unvermeidlich steht eingangs die Frage: „Was ist Pädophilie?“, mit Begriffsbestimmungen, Prävalenzschätzungen und den wenigen verfügbaren Erklärungsansätzen. Eine strafrechtliche Einordnung schließt sich an.
Jenseits von Kontroversen in den vergangenen Jahrzehnten steht unmissverständlich fest: Sex mit Kindern ist Missbrauch und strafbar. Damit ist das Dilemma vorgezeichnet. "Gefühle und Gefühlschaos" heißt das folgende zentrale Kapitel. Der Widerspruch ist definitiv nicht auflösbar. Wer Kinder sexuell begehrt, kann das nicht leben, ohne dem Kind zu schaden und ohne straffällig zu werden. Die gesamte Affektpalette von Frustration, Angst, Scham, Wut, Trauer und Trotz wird auf zwölf Seiten diskutiert. Anschließend wird skizziert, wie man mit Pädophilie leben kann, ohne sich strafbar zu machen, was ein Coming-out bedeutet, und welche Rolle Angehörige einnehmen können. Nicht zuletzt wird sanft, aber unnachgiebig mit allen Mythen über "einvernehmlichen" Sex mit Kindern aufgeräumt.
Kurz- und langfristige Schädigung des Kindes ist ohne Wenn und Aber zu erwarten; den potenziellen Tätern wird auch jede Hoffnung auf spätere "Wiedergutmachung" oder Entschuldigung genommen. Im letzten Drittel werden Selbsthilfe- und Therapiemöglichkeiten angeboten. Zum Buch gibt es umfangreiches Downloadmaterial.
Claudia Schwarze und Gernot Hahn haben aus profunder praktischer Erfahrung heraus genau den richtigen Ton getroffen und über die volle Distanz gehalten. Entscheidend wird jetzt sein, wie dieses wichtige Buch an den Mann (im selteneren Fall an die Frau) gebracht werden kann. Der Verkaufspreis von zwanzig Euro ist angemessen. Dem Psychiatrie-Verlag ist dafür zu danken, dass er dieses fachlich notwendige, aber vermutlich wenig gewinnträchtige Werk in sein Programm aufgenommen hat.
Martin Osinski in Soziale Psychiatrie
Letzte Aktualisierung: 26.04.2024