Natürlich gibt es Depressionen. Sind sie aber eine »Volkskrankheit«? Namhafte Psychiater und große Selbsthilfeorganisationen bejahen diese Frage heute für die westliche Welt. In diesem Sinne schreibt die Stiftung Deutsche Depressionshilfe: »Depressionen gehören zu den häufigsten und am meisten unterschätzten Erkrankungen.« (www.deutsche-depressionshilfe.de; Zugriff am 22. Januar 2018)
Ganz anders hört sich das bei dem Berliner Soziologen Konstantin Ingenkamp an, der sich aus gesellschaftlich-kulturwissenschaftlicher Perspektive mit der genannten Frage auseinandersetzt. Was herauskommt, ist ein großes Opus, das im Hauptteil eine »Ideengeschichte der Melancholie und Depression« von der Antike bis zur Gegenwart darstellt. Der historische Strang offenbart, dass die Melancholie – welche freilich weiter zu fassen ist als eine klinische Depression! – in der Antike hohes Ansehen besaß, im Mittelalter hingegen als Todsünde (»Acedia«) bewertet wurde. Im Protestantismus und Calvinismus des 16. Jahrhunderts galt sie dann als »eine Art Prüfung« (S. 91) auf dem Weg zu Gott. Bis zur Aufklärung aber war sie »keine Kategorie des Wahnsinns«! (S. 100) Ab da freilich wird die Melancholie nach und nach zur Krankheit. Insbesondere, nachdem mit dem Siegeszug von Kapitalismus und protestantischer Ethik die »Vita activa« (S. 103) zum allgemein akzeptierten Verhaltensideal wurde.
Ganz ähnlich verhält es sich ja heute. Und alle im ersten Teil des Buches angestellten Analysen der Depression, von denen Ehrenbergs »erschöpftes Selbst« sicherlich die bekannteste ist, konvergieren in der These, dass ein massiver und überschneller gesellschaftlicher Wandel die Menschen heute depressiv macht. Es ist die allgemeine Überforderung, die ständige Drucksituation der (Arbeits-)Welt, in der Scheitern paradoxerweise als »eigenes [!] Versagen« (S. 62) erlebt wird, was die Depression zur Leitkrankheit unserer Zeit macht.
Um aber zur Krankheit der Allgemeinheit anzuwachsen, bedurfte es noch zweierlei: zunächst einer Medizin, die das Herabgestimmtsein, die Unlust und Antriebslosigkeit als »Krankheit« wertet. Eine solche Medizin stand seit o.g. Neuausrichtung der Psychiatrie mit Griesinger und Kraepelin zur Verfügung. Auch abnorme Seelenzustände mussten nun eine körperliche Ursache haben. Die Depression, die hier erst ihren modernen Namen bekam, geriet so in das Räderwerk der somatischen Medizin. Als eine der beiden grundlegenden psychiatrischen Krankheiten ins Kraepelin‘sche Klassifikationssystem eingeordnet (wenngleich noch als »manische Depression«, S. 121), wird sie von hier aus in der psychiatrischen Welt etabliert. Zwar wurde der medizinisch orientierten Psychiatrie durch das revolutionäre Freud’sche Konzept und die nachfolgende Rede von »Psychoneurosen« zunächst das Geschäftsfeld abgegraben. Mit der Rückbesinnung aufs Arztsein und dem Paradigmenwechsel in der Diagnostik 1980 (DSM-III) gelang aber die Rückgewinnung u.a. der Depression für die psychiatrische Disziplin. Und durch das Bündnis mit der mächtigen Pharmaindustrie samt deren Entwicklung krankheitsspezifischer Medikamente, »Antidepressiva« genannt, war der Siegeszug der Depression als Krankheit schließlich nicht mehr aufzuhalten.
Das zweite Agens auf dem Weg zur Volkskrankheit war dann (wohl entgegen ihrer ursprünglichen Absichten) die Gesundheits- und Selbsthilfebewegung. Sie machte – verschränkt mit Entstigmatisierungskampagnen der stark körperlich ausgerichteten Psychiatrie (»Sehen Sie Ihre Depression als eine Krankheit wie Diabetes an!«) – die Depression auch in weiten Teilen der Normalbevölkerung bekannt und salonfähig. Zur »Demokratisierung« der Depression trug außerdem die Ausweitung des Krankheitsbegriffs durch den deskriptiven Klassifikationsansatz des DSM-III bei. Auch leichtere Verstimmungen und andere Lebensprobleme ließen sich jetzt als »Depression« bezeichnen, und dem »inflationären Gebrauch der Diagnose« (S. 337) war damit endgültig der Weg geebnet.
Es ist dieses Zusammenspiel von historischen Besonderheiten (Stichwort: Beschleuni-gungsgesellschaft), daraus resultierenden Anforderungen an den Einzelnen (SW: Erschöp-fung), einer somatisch ausgerichteten Psychiatrie mit neurologisch wirksamen Medikamen-ten (SW: Prozac) und einer starken Bewegung von Betroffenen, was zu einem ausufernden Anwachsen der Depressionen in einer jetzt neu konzipierten »Gesundheitsgesellschaft« führt. Ob diese »Depressionen« in der Mehrzahl überhaupt Krankheiten sind, zweifelt der Autor, der melancholische Zustände als »zur conditio humana gehörend« (S. 335) beschreibt und am Ende seines Buches eindringlich von einem »Depressionsalarmismus« (S. 341) warnt, zu Recht an. Sieht man es noch kritischer, muss man gemäß der israelischen Kultursoziologin Eva Illouz bei der Geschichte der Volkskrankheit Depression wohl gar von einer »dämonischen Erzählung« (S. 341) sprechen.
Jürgen Karres in Soziale Psychiatrie
Letzte Aktualisierung: 26.04.2024