Der hier Schreibende hat – als Rezensent, Psychologischer Psychotherapeut und vor allem als von Depressionen langjährig selbst Betroffener – unzählige Bücher über »Depressionen« gelesen. Keinem konnte er so vorbehaltlos zustimmen, wie dem hier besprochenen Buch von Thorsten Padberg. Auf etwas über 240 Seiten gelingt es dem Berliner Verhaltenstherapeuten in überzeugender Weise ein neues (und gleichzeitig »altes«) Bild der Depression zu zeichnen. Eines, das nicht dem Kardinalfehler der gegenwärtigen Psychiatrie verfällt, sofort von psychischer Krankheit zu sprechen und diese dann medikamentös zu behandeln.
Dieses biologische Modell der Depression, das mittlerweile fast alle Ärzte in Deutschland vertreten und das auch als »modernes« Bild der Depression in den Köpfen der Allgemeinbevölkerung angekommen ist, beschreibt depressives Erleben ja als primär organisch bedingt. Anhand von isolierten Symptomen definiert, die vom Lebenskontext getrennt werden, stellt dieses Modell psychische Krankheit auf eine Stufe mit körperlichen Krankheiten. Das hat den Vorteil u. U. zu entstigmatisieren, führt aber zu erheblichen Kollateralschäden. Denn en passant verwandelt sich das psychische Problem der Depression – seelisch also, wie seit alters her beschrieben! – in eine Krankheit »wie andere Krankheiten auch«. Und Depression als »echte Krankheit« (U. Hegerl) wird dann natürlich medizinisch behandelt. Mit Medikamenten eben, vor allem den Antidepressiva (ADs).
Nur ist diese Hauptbehandlungsweise der gegenwärtigen Psychiatrie alles andere als eine Erfolgsgeschichte, wie Padberg auch anhand von Zahlen nachweist: denn parallel zu den Verordnungsziffern von ADs stieg auch die Erkrankungsrate! Der amerikanische Wissenschaftsjournalist Robert Whitaker sagt dazu: »Wir [in den USA] haben jetzt 25 Jahre lang Erfahrungen [mit Antidepressiva] gesammelt. Und was wir dabei sehen, sind einfach keine guten Ergebnisse« (S. 50, 57). Dennoch setzen die allermeisten Psychiater und die von deren Informationen abhängigen Patientinnen und Patienten weiter und weiter auf diese Behandlungsform.
Padberg stellt dem eine völlig andere Sicht entgegen. Er versteht Depressionen vornehmlich als reaktiv, d. h. in Antwort auf missliche Lebenserfahrungen entstanden. Die gesellschaftliche Komponente rückt solchermaßen wieder in den Vordergrund: »Arbeitsstress, Gewalterfahrungen, Einsamkeit, Erwerbslosigkeit«, etc. (S. 219). Die Ursache wird also nicht mehr als primär in der Person gelegen ausgemacht, sondern im Umfeld. Und Padberg kritisiert in diesem Zusammenhang die grundlegende Veränderung des Diagnostischen und Statistischen Manuals Psychischer Störungen (DSM) ab 1980, wo die Lebensumstände, also all das, was der depressiven Symptomatik vorausgeht, als irrelevant erklärt und im Diagnosekatalog gestrichen wurden.
Damit aber gelangte die sich modern gerierende Psychiatrie in eine Situation, in der sie die Depression gewissermaßen auf den Kopf stellte. Jeglicher Anlass für das depressive Geschehen, z. B. also ein schwerer Verlust, spielt seitdem in der Diagnostik keine Rolle mehr. Rein die Symptome zählen! Die gesamte Verwurzelung der Depression im Leben und seinen manchmal schwierigen Bedingungen ist aus dem Blickfeld gerückt. Leid wird wie selbstverständlich mit einer medizinischen Kategorie, der Depression, verknüpft. Das schon immer in der Geschichte verzeichnete Leiden von Menschen ist damit zur Krankheit geworden.
Dieser Logik widersetzt sich Padberg und stellt die Depression gewissermaßen zurück auf die Füße. Indem er Seelisches und Soziales beachtet, das depressive Leid zu verstehen sucht und dann mit psychotherapeutischen Methoden Veränderungsarbeit leistet. Ein gänzlich anderer Ansatz, der auch einen anderen Umgang mit dem Patienten mit sich bringt. Gemeinsames Erarbeiten der Depressionsgeschichte mit Suchen nach Auswegen hier versus top-down verabreichtes Expertenwissen mit Psychopharmaka dort. Zwei Welten, die unterschiedlicher nicht sein könnten!
Thorsten Padberg muss ein mutiger Mann sein. Denn mit seiner zum Mainstream gegenläufigen Konzeption der Depression und ihrer Therapie legt er sich mit der gesamten, im Buch auch namentlich benannten, Spitze der deutschen Psychiatrie an. Und obwohl Padbergs Ton niemals aggressiv ist, er an keiner Stelle mit Schaum vor dem Mund schreibt, sind seine Aussagen doch radikal. Sie legen, am Wohl des Patienten orientiert, hochdifferenziert den Finger in die Wunde der schwer defizitären Psychiatrie von heute - und müssten diese eigentlich zum Einsturz bringen, besser noch zu einer Umkehr bewegen. Doch all das wird – obwohl wohlbegründet und richtig – nach Meinung des Rezensenten nicht geschehen. Wie schon bei anderen kritischen Büchern zuvor wird man die Padberg ́schen Gedanken nicht groß zur Kenntnis nehmen, das von ihm aufgezeigte alternative Modell als empirisch nicht belegt zurückweisen und im alten Fahrwasser noch mehr desselben (Falschen!) machen. So ist nur zu hoffen, dass viele depressiv Betroffene dieses gut lesbare Buch zur Hand nehmen. Sie werden sich darin wiederfinden und bekommen auch »Wege aus der Depressions-Falle« (Kap. 6) aufgezeigt! Und vielleicht kann von ihnen ja eine Bewegung ausgehen, dass solche Gedanken und alternative Ansätze endlich ernst genommen werden. Das allgegenwärtige depressive Elend schreit geradezu danach.
Jürgen Karres in Soziale Psychiatrie
Letzte Aktualisierung: 26.04.2024