Dieses Buch ist wirklich irre verständlich, gut gegliedert und sehr praxisnah. Wer einen Ratgeber für den Alltag in der Gemeindepsychiatrie sucht, der liegt hier richtig.
Der Titel stellt das Buch in die Tradition des Lehrbuches "Irren ist menschlich" von Dörner und Plog. Wiewohl es kein psychiatrisches Lehrbuch ist, sondern ein Praxis-Ratgeber, finde ich diesen Anklang nicht anmaßend, sondern sogar passend. Der seinerzeit von Plog und Dörner versuchte Ansatz des Verstehens und des therapeutischen Optimismus wird in "Irre verständlich" konsequent für die Umsetzung in der alltäglichen Praxis beschrieben.
Das Buch ist übersichtlich gegliedert. Teil 1 berichtet über die aktuellen Erkenntnisse zu Ursachen psychischer Erkrankungen, stellt Empowerment und Recovery vor und führt in Lösungsansätze für den psychiatrischen Berufsalltag ein. Bezeichnenderweise kommt als Erstes ein Praxis-Beispiel. Fast jedes Kapitel wird mit solchen Beispielen begonnen. Das ermöglicht auch Berufsneulingen einen leichten Einstieg in die Problematik.
Der Teil 2 befasst sich dann mit den gängigen Störungsbildern psychischer Beeinträchtigungen: Psychosen, Depressionen, Bipolare Erkrankungen, Persönlichkeitsstörungen, Borderline, Angststörungen, Zwangsstörungen, Traumasensibilität, Umgang mit suizidalen Krisen. Diese Kapitel sind jeweils etwa 15 Seiten lang und immer gleich gegliedert. Zunächst kommt das "Erleben von Betroffenen", dann "Was wir alle kennen", danach Informationen zur jeweiligen Störung gefolgt von "Was hilft im Alltag?".
Treffend fand ich z.B., wie Persönlichkeitsstörungen als in der Kindheit oder Jugend gefundene, aber dabei auch "stecken gebliebene" Bewältigungsstrategien dargestellt werden. Es wird so der Weg zum Verstehen geebnet und ein positiver Ausblick auf ein mögliches Nachreifen geöffnet. Die kurzen Kapitel ermöglichen es, auch während des Alltages mal nachzuschauen, ob sich ein brauchbarer Ratschlag zum Verstehen eines Problems oder für eine bestimmte Problematik oder Situation findet. Dabei sind zusätzliche kurze Hinweise am Rand neben dem Text sehr hilfreich.
Ich arbeite nun über 30 Jahre in der ambulanten psychiatrischen Versorgung und fand für mich sogleich viele neue Blickwinkel und nützliche Hinweise. Auch, weil es so schön konzentriert ist. Ein ganzes Buch z.B. zu Borderline schaffe ich kaum zu lesen. Aber in den überschaubaren Kapiteln zu einzelnen Störungsbildern kann man prima noch mal schauen, wenn man unsicher ist und relativ schnell Rat sucht. Zum Buch gehört auch das Angebot, sich bestimmte Dokumente per Download von der zugehörigen Homepage zu beschaffen. Besonders interessant dabei finde ich die Liste »Frühwarnzeichen« und den "Persönlichen Krisenplan". Diese kann man so zusammen mit Betroffenen strukturiert erarbeiten.
Neben der lebendigen und verständlichen Sprache ist der Geist des Buches wichtig. Die Sicht auf Profis als Assistenten bei der Gesundung oder Besserung eines Menschen mit psychischer Erkrankung zieht sich konsequent durch alle Kapitel. Überall ist der therapeutische Optimismus zu spüren. Nicht, dass alles für machbar erklärt wird. Aber wie viel vom Optimismus der Helfer und des sozialen Netzwerkes abhängt, wird hier in eine nachvollziehbare Alltagspraxis übersetzt. Nicht so gut platziert ist meines Erachtens der kurze Abschnitt »Mit zwei Augen sieht man besser« ganz am Schluss. Dort wird geraten, neben den störungsbedingten Schwächen auch die Stärken der Betroffenen zu erkennen und zu nutzen.
Außerdem wird zwar immer wieder auf die große Bedeutung von Team-Arbeit und Supervision hingewiesen, doch könnte diese noch etwas vertieft und z.B. am Ende des Kapitels 1 prominenter platziert werden. Das Buch ist stark am Alltag der Gemeindepsychiatrie und der Werkstatt orientiert. Möglicherweise fühlen sich die Mitarbeitenden in der akuten Klinik-Praxis nicht ganz so repräsentiert. Andererseits findet die Psychiatrie dort ja immer weniger statt.
Für meinen Berufsalltag ist es sehr hilfreich. Mein Team beim Integrationsfachdienst war begeistert von dem Buch. Wir haben uns gleich zwei Exemplare bestellt. Alle haben schon darin herumgeblättert und immer wieder etwas Interessantes gefunden. Der Preis von fast 30 Euro spiegelt sicher die sorgfältige Produktion und Ausstattung wieder. Ein gebundenes Buch kann man auch gut immer wieder als Nachschlagewerk nutzen. Allerdings werden manche sich den Kauf zweimal überlegen. Noch lieber wäre es mir als preiswerteres Taschenbuch für etwa die Hälfte.
Manfred Becker in Psychosoziale Umschau
Letzte Aktualisierung: 09.08.2024