Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie
Dachverband Gemeindepsychiatrie
Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen
Psychiatrie Verlag

Das Depressionsbuch – Informationen für Betroffene, Angehörige und Interessierte

Dieses Buch ist hilfreich – ohne jeden Zweifel! Und sticht als Neuerscheinung am Ende 2020 auf dem Büchermarkt zu Depressionen gleich mehrfach hervor. Einmal gibt es einen breiten und aktuell gültigen Überblick zur Depression und es wird der Komplexität der Thematik medizinisch-psychotherapeutisch gerecht. Zudem ist es richtig gut geschrieben, lebensnah und in hohem Maße auch für Laien lesbar. Außerdem setzt es die Gewichtungen anders als viele bereits existierende Bücher zum Thema: Von zwei Psychologischen Psychotherapeuten geschrieben, liegt der Schwerpunkt nicht auf medizinischen Aspekten der Krankheit, sondern stellt Psychologisches ins Zentrum – ohne dabei das Biologische zu vernachlässigen.

Auch die Einteilung, die Tobias Teismann, seines Zeichens Leiter des Zentrums für Psychotherapie in Bochum, und der in einer Praxisgemeinschaft niedergelassene Psychotherapeut Sven Hanning vornehmen, ist so simpel wie klasse.

Das Buch selbst ist in drei Abschnitte gegliedert und mit den allgemeinverständlichen Überschriften versehen: »Wann spricht man von einer Depression?«, »Warum wird und bleibt man depressiv?« und schließlich »Welche Behandlungsarten gibt es?«. Darunter ist in 16 Kapiteln sehr viel Fachwissen versammelt, worauf auch das umfangreiche und größtenteils englischsprachige Literaturverzeichnis am Ende verweist.

Die Leser – und das sollten über »Betroffene, Angehörige und Interessierte« hinaus unbedingt auch Hausärzte und Hausärztinnen sein, die ja vielfach als erste mit depressiven Patienten in Kontakt kommen – erhalten eine (Über-)Fülle an Informationen zur Depression. Dies hochdifferenziert und an wissenschaftlichen Erkenntnissen orientiert, jedoch nicht blind üblichen Erklärungsmustern folgend.

Der eigenständige Blick auf das komplexe Phänomen »Depression« bringt daher immer wieder Anderes und Neues zum Vorschein. So wird – um gleich ans Ende zu Teil 3 und den Behandlungsmethoden zu springen – zusammen mit anderen Experten zwar konstatiert: »Depressive Störungen sind gut behandelbar« (S. 136), und es werden eine Vielzahl an Behandlungsoptionen aufgezeigt. Am Ende jeder Therapieform wird aber deutlich gemacht, dass diese Methoden – sei es die Kognitive Verhaltenstherapie (KVT), CBASP als Spezialform für chronisch Depressive oder Achtsamkeitsbasierte Therapie (MBCT) als Methode der Rückfallprävention – keinesfalls immer und bei jedem zum Erfolg führen. Insbesondere gilt das für die »medikamentöse Behandlung«, die fachlich kompetent, aber überaus kritisch dargestellt wird. Denn dass Antidepressiva »sehr wirksame Medikamente mit zu vernachlässigenden Nebenwirkungen sind«, entspräche »leider nicht der gegenwärtigen Befundlage« (S. 231). Auch Absetzphänomene kommen berechtigterweise zur Sprache, und summa summarum heißt es, dass Antidepressiva »nicht ›leichtfertig‹ eingenommen oder verschrieben werden« sollten (S. 227). Im Mittelpunkt der aufgezeigten Behandlungsarten aber steht die schon genannte KVT, in der die Autoren selbst zu Hause sind (S. 141–185). Die beiden Teile zuvor behandeln das Erscheinungsbild, unterschiedliche Formen, Verlauf und Diagnose der Depression (Teil 1) sowie die unterschiedlichen Erklärungsmuster zu dieser hoch variantenreichen Erkrankung (Teil 2). Vor allem letzterer besticht erneut durch seine Klarheit: Mit Stress, Verhalten, Denkinhalten/-arten, Beziehungsgestaltung sowie Neurobiologie und Genetik werden in fünf Kapiteln wesentliche Theorien zu Entstehung und Aufrechterhaltung von Depressionen prägnant dargestellt. Und auch hier wird manches, was in der Öffentlichkeit verzerrt verbreitet ist, zurechtgerückt: Es sind eben nicht die Gene bzw. die Vererbung und auch nicht angebliche Hirnfunktionsstörungen, die bei Depressionen eine zentrale Rolle spielen, sondern Umweltfaktoren: »Der Fokus auf eine biologische Verursachung« (S. 68) führt also in die Irre, viel wichtiger seien »schwerwiegende Lebensereignisse und chronische Stressoren« (S. 75).

Wirklich alle Komponenten in einem echt biopsychosozialen Modell werden hier bei Teismann & Hanning angesprochen – kein Lippenbekenntnis wie vielfach andernorts!

Doch halt: Der letzte Baustein, das Soziale, fehlt weitgehend. Und das ist höchst bedauerlich! Denn Depressionen sind letztlich nicht zu verstehen, wenn ihr Eingebettetsein in die Gesellschaft nicht berücksichtigt wird. Eine Erörterung der Depression als Zeitkrankheit, als sozial erzeugte Realität unserer Leistungs- und Erschöpfungsgesellschaft lassen die Autoren jedoch fast vollständig vermissen. Damit wird auch versäumt, Depressionen als sinnvolle Reaktionen auf manche Belastungen des Lebens einzuordnen, Depressionen in ihrer leichten Form zu normalisieren. Und last, but not least wird vergessen, den Selbsthilfegedanken stärker ins Zentrum zu rücken: denn ohne Eigeninitiative, ohne ein Sich-selbst-auf-den-Weg-Machen – ja, in der Depression extrem schwierig! – wird Depressionstherapie scheitern. Bewältigung (unter aktivem Einsatz intrinsischer Kräfte) steht nun mal vor Behandlung/Behandeltwerden!

So bleibt am Ende durchaus Bewunderung dafür, wie es im Buch gelang, die Komplexität von Depressionen überaus breit zu erfassen. Nur leider wurde das medizinische Modell der Depression zwar psychologisch erweitert, selbst aber nicht gesprengt. In diesem Sinne hat keine Abkehr von der Medikalisierung der Depression stattgefunden – was angesichts der sonstigen Qualität des Buches jammerschade ist!

Jürgen Karres in Soziale Psychiatrie

 

Letzte Aktualisierung: 26.04.2024