»Wie war es möglich, dass an der Ermordung von minderjährigen und erwachsenen Menschen mit psychischen Erkrankungen und geistigen Behinderungen beteiligte Ärztinnen und Ärzte wieder im niedersächsischen Landesdienst tätig sein konnten?« Mit dieser Frage beschäftigt sich das Buch von Christof Beyer, das auf dem Abschlussbericht eines Forschungsauftrags des Niedersächsischen Ministeriums für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung basiert.
Zunächst beschreibt der Autor die rechtlichen und politischen Voraussetzungen. Nachdem mit der Entnazifizierung durch die Besatzungsmächte nach 1945 nationalsozialistisch »belastete« Personen aus Ämtern und Behörden entfernt worden waren und Prozesse gegen einige der Täter der »Euthanasie«-Morde geführt wurden, änderte sich das öffentliche Klima und die juristische Beurteilung der Verbrechen Ende der 1940er Jahre. Angeklagten wurde ein »stiller Widerstand« attestiert oder zugebilligt, mit ihrem Handeln »Schlimmeres verhindert zu haben«.
In der Bevölkerung nahm die Kritik an der Entnazifizierung zu. Die Ärzteschaft bediente sich einer »Exklusionsstrategie«, nach der es sich bei den verurteilten Tätern um eine »kleine Minderheit« gehandelt habe. Dabei waren die Landesverwaltungen mit bereits im Nationalsozialismus tätigen Beamten durchsetzt, wie Beyer u.a. am Beispiel von Otto Buurmann (1890–1967) zeigt. Buurmann war während der NS-Zeit in verschiedenen Gesundheitsämtern tätig. Von Ende 1945 bis 1954 leitete er die Abteilung Gesundheit im niedersächsischen Gesundheitsministerium und sorgte für die Einstellung »altgedienter Medizinalbeamter«. 1954 wurde Buurmann Leiter der Abteilung Gesundheit im Bundesinnenministerium. Auch seine Nachfolger in Niedersachsen, Hellmuth Kluck und Johannes Berger, setzten diese Personalpolitik fort.
Legitimiert wurde dies durch die Verabschiedung des Grundgesetzartikels 131 (1951), der einen Schlussstrich unter die Entnazifizierung setzte und Maßnahmen der Alliierten rückgängig machte. Das hatte zur Folge, dass belastete Personen ihren Beamtenstatus wiedererlangten bzw. Pensionen erhielten, Ermittlungen eingestellt und an den Verbrechen beteiligte Personen wieder in verantwortliche Positionen kommen konnten. Dies alles ging bezeichnenderweise einher mit einer Nichtwahrnehmung der Opfer, die sich in der bundesrepublikanischen Entschädigungspolitik niederschlug.
Diese ungeheuerlichen Tatsachen verdeutlicht Beyer an einigen Nachkriegskarrieren. Willi Baumert (1909–1984), seit 1933 Mitglied der SS, hatte nach der Tätigkeit in den Landes-Heil- und Pflegeanstalten Osnabrück, Lüneburg und Wunstorf 1940 den Kriegsdienst für die Waffen-SS angetreten. Nach seiner Beurlaubung war Baumert an der »Kindereuthanasie« in der Kanzlei des Führers und als Leiter der »Kinderfachabteilung« in Lüneburg beteiligt, wo über 300 Mädchen und Jungen getötet wurden. 1953 wurde Baumert wieder in den Rechtsstand als Beamter auf Lebenszeit gesetzt und Oberarzt in Wunstorf, 1958 Direktor des Landeskrankenhauses Königslutter.
Ernst Meumann (1900–1965) war 1940 Direktor der Heil- und Pflegeanstalt Königslutter geworden und für die Verlegung von Patientinnen und Patienten in die Tötungsanstalt Bernburg/Saale verantwortlich. Unter seiner kommissarischen Leitung der Neuerkeröder Anstalten von 1941 bis 1945 kamen Minderjährige in die »Kinderfachabteilung« Uchtspringe. 1954 wurde Meumann Direktor des Landesfürsorgeheims Moringen.
Auch andere Täterinnen und Täter wie Gerhard Kloos, Helene Sondermann, Hildegard Wesse, Heinrich Bunke und Klaus Endruweit blieben weitgehend unbehelligt und konnten ihren Beruf weiter ausüben.
Erst in den 1960er Jahren nach der Enttarnung des »Euthanasie«-Obergutachters Werner Heyde (1902–1964), der unter dem Decknamen Fritz Sawade in Flensburg als Arzt unbehelligt praktizierte, nahm der politische Druck zu. Dies war in besonderer Weise den Ermittlungen des Frankfurter Generalstaatsanwaltes Fritz Bauer (1903–1968) zu verdanken. Es zeigte sich, dass auch das Land Niedersachsen ein Sammelbecken für an der »Aktion T4« und an der »Kindereuthanasie« beteiligte Personen war. Doch Konsequenzen blieben weitgehend aus.
Christof Beyer stellt in seiner fundierten Studie exemplarisch für Niedersachsen dar, wie nach 1945 in der Bundesrepublik mit den Medizinverbrechen und den Täterinnen und Tätern umgegangen wurde.
Als Gegenstand weiterer Forschungen benennt der Autor die möglichen Kontinuitäten oder Veränderungen in der therapeutischen Arbeit von Ärzten wie Willi Baumert oder Ernst Meumann und nach ihrer ärztlichen Perspektive auf die Patientinnen und Patienten sowie die kontinuierliche Ausgrenzung und lange fehlende Anerkennung für die Opfer der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik.
Thomas R. Müller in Soziale Psychiatrie
Letzte Aktualisierung: 01.05.2024