"What distinguishes the social history of medicine from the history of medicine is the approach to the subject – the belief that topics […] can only be understood in the context of society of which they are part." (Digby und Smith 1988, S. 5) Wenn zu den Zielen der Sozialgeschichtsschreibung gehört, die Subjekte ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken, dann müssen neben Handelnden auch Behandelte einbezogen werden. In seinem programmatischen Aufsatz "The Patient’s View. Doing Medical History from Below" unternahm der englische Medizinhistoriker Roy Porter (1985) erste theoretische Bemühungen für dieses Unterfangen.
Bezogen auf das Feld der Psychiatrie gibt es jedoch nur wenig gelungene Ansätze, die einen umfassenden sozialgeschichtlichen Zugriff unter Einbeziehung der Professionals auch der Patientengeschichte einlösen. Umso erfreulicher ist es, dass der Fischer Verlag die beiden Werke von Dirk Blasius "Der verwaltete Wahnsinn" (1980) und "Einfache Seelenstörung" (1994) neu aufgelegt hat. Nach über zwanzig Jahren haben sie kaum an Aktualität und wissenschaftlichem Wert verloren, im Gegenteil: Sie können nach wie vor beim Aufbau eines kritischen Verständnisses über den Status quo der psychiatrischen Versorgung förderlich sein.
Ausgangspunkt in "Der verwaltete Wahnsinn" ist die Enquete-Kommission, deren Bericht über die Lage der Psychiatrie (1975) nur wenige Jahre zuvor erschien. Blasius sieht darin nicht mehr als ein "Kaleidoskop psychiatrischer Miseren" (1980, S. 9) und vermisst konkrete Handlungsanweisungen für Reformen.
Seit 1980 hat sich sicher einiges verändert; Therapieangebote sind deutlich gemeindenaher geworden (gemeindepsychiatrische Verbünde, Hometreatment), die Personalausstattung psychiatrischer Kliniken wurde verbessert (Psychiatrie-Personalverordnung), Angehörige und Betroffene sind in entsprechenden Verbänden (BApK, BPE) organisiert. So sei dahingestellt, ob den Landeskrankenhäusern nach wie vor "psychiatrischer Grabgeruch" (1980, S. 2) anhaftet. Weiterhin gültig ist jedoch die Problemlage, dass der großen Zahl vollstationärer Krankenhausbetten nur eine schwindend geringe Anzahl gemeindenaher Behandlungsplätze gegenübersteht.
Blasius ist bemüht, den Umgang, den Betroffene in der gegenwärtigen Gesellschaft erfahren, das Stigma, welches sie zu tragen haben, auf "die Geschichte der modernen bürgerlichen Gesellschaft, ihre Emanzipationsschübe, aber auch ihre Blockierungen und bürokratischen Verhärtungen" (1980, S. 2) zurückzuführen. Dies gelingt ihm, indem er vornehmlich nicht die Geschichte psychiatrischer Institutionen in den Blick nimmt, sondern anhand von Selbstzeugnissen (Erfahrungsberichten, Protestschriften gegen Behandlungsbedingungen) die Lebensrealität, den Lebensweg und das Milieu in dem sich Betroffene bewegten, herausarbeitet.
Für die preußische Rheinprovinz zeichnet er nach, wie zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein Heilgedanke entstand, der als Gegenpol zur damals üblichen Verwahrpraxis psychisch Kranker aufgefasst werden kann. Diese an den Idealen der Aufklärung orientierten frühen bürgerlichen Bestrebungen trugen auch zur Gründung von Landeskrankenhäusern bei, deren Ziel zunächst die Heilung der Irren war. Blasius geht den Gründen des in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmenden Irrenproblems nach. In diesem Kontext widerlegt er auch die Annahme, dass der Überlebenskampf von Unterschichtfamilien durch Industrialisierung und Urbanisierung zu Überforderung und schließlich zu einer allgemeinen Tendenz geführt habe, Irre aus der Familie in staatliche Irrenpflege zu geben.
Ursachen für die verstärkte Irrenverwahrung seien hingegen im wachsenden Sicherheitsinteresse des preußischen Staates zu suchen. Während das bürgerliche Selbstbewusstsein bröckelte, eigneten sich preußische Behörden das Irrenproblem zunehmend an. Verordnungen wurden eingeführt, um psychisch Kranke in polizeilichen Registern zu erfassen, außerdem wurde versucht, Kranke aus familiärer Pflege in Irrenanstalten zu drängen. Eine Reihe von Entlassungsgesuchen Angehöriger belegt den Widerstand, der sich in der Zivilbevölkerung gegen die preußische Internierungspraxis regte.
Mit Beginn des 20. Jahrhunderts bricht die Ausführung ab, bevor nur kursorisch auf die NS-Zeit eingegangen wird. Ausarbeitungen zum ersten Weltkrieg, zur Weimarer Republik sowie eine detailliertere Darstellung der Psychiatrie im Nationalsozialismus fehlen in diesem ersten Buch, finden sich jedoch in "Einfache Seelenstörung".
In diesem zweiten, hier rezensierten Text liegt der Schwerpunkt weniger auf der Patienten- als auf der Professionsgeschichte. Um einen differenzierten Blick auf die Verflechtung von Wissenschafts-, Institutions- und Sozialgeschichte der Psychiatrie von 1800 bis 1945 zu erhalten, bedient sich Blasius der historischen Berufsbiografik. Er greift wichtige – überwiegend ärztliche – Persönlichkeiten auf und rekonstruiert ihre individuellen Lebensläufe und Bedeutungen für das Fach. Dabei ist er um eine kritische Sichtweise bemüht, um ohne "individualistische Überhöhungen" (vgl. Brückner 2015) auszukommen.
Der Titel "Einfache Seelenstörung" ist ein medizinischer Sammelbegriff des späten 19. Jahrhunderts, der die schwersten seelischen Störungen, Schizophrenien und bipolare Störungen einschließt. Für Blasius ist er zugleich Symbol für die »Formgewinnung der Psychiatrie als Wissenschaft wie für ihren politischen Absturz« (1994, S. 8); schließlich bildeten die mit dem Begriff gefassten Diagnosen die Kernpopulation der vom NS-Regime für Tötungsaktionen vorgesehenen Patienten.
So sehr sich die beiden Werke von Dirk Blasius zeitgeschichtlich überschneiden, so heterogen sind sie hinsichtlich der eingenommen Blickwinkel (Patienten- vs. Professionsgeschichte), gesetzten Schwerpunkte (preußische Bürokratie vs. NS-Psychiatrie) und einbezogenen Quellen. Nicht zwei verstaubte Geschichtsbücher hat der Leser hier vor sich, sondern eine Psychiatriegeschichte, die von den Äußerungen der daran beteiligten Subjekte belebt ist.
Letzte Aktualisierung: 01.05.2024