Das Buch enthält eine komprimierte Sozialgeschichte der Psychiatrie und darüber hinaus der "sozialen Frage", das heißt, wie geht die Gesellschaft mit den Menschen um, die unnütz, störend, schwach, krank oder sonst wie anders sind. Es gibt damit auch den Schlüssel für das widersprüchliche Wirken der Psychiatrie zwischen Hilfe und sozialer Kontrolle, zwischen heilen und vernichten.
In den Mittelpunkt stellt Klaus Dörner die Metapher des "Pannewitzblicks", "jenes Blickes, der einen Menschen in ein Dingsda verwandelt, es in verwertende und auszurottende Faktoren zerlegend", den Primo Levi in der Begegnung mit dem SS-Arzt Dr. Pannewitz in Auschwitz erlebte. Dabei handelt es sich um die besonders reine und zugespitzte Variante einer generellen Dimension menschlicher Beziehung, die des Beherrschens, Aneignens und Verwertens. Mit der Moderne, im Rahmen einer vor allem marktwirtschaftlich bestimmten Ethik, die den Wert des Menschen vor allem nach seinem Nutzen, seiner wirtschaftlichen Brauchbarkeit bemisst, wurde sie immer mehr zum bestimmenden Element menschlicher und gesellschaftlicher Beziehungen und fand in Auschwitz ihre schlimmste Ausprägung.
Die Ausführungen werden lebendig und nachempfindbar, weil Klaus Dörner autobiografisch den "Pannewitzblick" bei sich selbst, in seinen eigenen Beziehungen, vor allem zu den Opfern der Euthanasie, reflektiert und seinen persönlichen Weg zur Wahrnehmung der Betroffenen als Menschen nachzeichnet. Die Perspektive der Täter, bis hin zur Euthanasie, erscheint so nicht als etwas Fremdes, Unmenschliches, sondern als eigene Möglichkeit, eine Erkenntnis, die Voraussetzung ist für die Verarbeitung der widersprüchlichen Geschichte der Psychiatrie.
Der Leser wird angeregt, eigenes Verhalten zu überprüfen, die vielfältigen Mechanismen der Verdinglichung und Entwertung des Menschen im psychiatrischen Alltag wahrzunehmen. Das ist ein Aspekt, den wir wegen seiner Inkompatibilität mit unserem Selbstverständnis als Helfer, als Therapeut, ebenso wie die düsteren Kapitel der Psychiatrie gern verdrängen. Wenn wir die Informationen aus der Psychiatrieerfahrenenbewegung ernst nehmen, so bestimmen auch heute noch oft Zwang und Gewalt, Verlust an Autonomie und Menschlichkeit das Erleben von Betroffenen in der Psychiatrie.
Der "Pannewitzblick" stand schon immer im Vordergrund einer an E. Kraepelin orientierten naturwissenschaftlichen Psychiatrie und hat die Wahrnehmung und den Umgang mit den psychisch Kranken entscheidend geprägt, mit einem Höhepunkt in der Zeit des Faschismus. Er dominiert auch weiter die psychiatrische Theorie und Praxis bis in die Gegenwart in Form des medizinischen Modells, aus der sozialen Frage wird ein medizinisches Problem. Mit unserem diagnostischen Vorgehen, besonders auch den modernen Taxonomien wie der ICD-10 oder DSM-IV, wird psychisches Kranksein nur von außen beschrieben, klassifiziert und wie eine Sache behandelt. Das gilt nicht nur für die traditionelle Psychiatrie mit ihren institutionellen Strukturen, sondern auch für institutionalisierte Formen der Gemeindepsychiatrie.
Die Wendung zu einem konsequent personenzentrierten Zugang, der die Betroffenen als verantwortliche Subjekte ihrer Geschichte, ihrer Krankheit und der Behandlung ernst nimmt, steht noch weit gehend aus. Das ist eine wesentliche Ursache für antipsychiatrische Tendenzen in der Psychiatrieerfahrenen-Bewegung. Der "Pannewitzblick" ist es auch, der aus Mitleid, aus einem solidarischen Gefühl, eine Waffe, eben "tödliches Mitleid" macht. Leiden, Schmerzen, chronische Krankheit, soziales Versagen sind nicht mehr etwas, das den Wert des Lebens zerstört, etwas für die Mitmenschen und die Gesellschaft Unerträgliches, das unsichtbar zu machen oder zu beseitigen ist, mitsamt den betroffenen Menschen.
Dahinter steht das sozialdarwinistische Bild einer leidensfreien Gesellschaft von Tüchtigen und Starken, eine Ethik, die nur den gesunden und leistungsfähigen Menschen gelten lässt, die Aussonderung, "Versorgung", ja u. U. Vernichtung der Unnützen, Störenden, Kranken, Alten, der "Ballastexistenzen" legitimiert. Damit werden Ausgrenzung in Heimen und Anstalten, Zwangssterilisation und Euthanasie möglich.
Der marktwirtschaftlichen Ethik setzt Klaus Dörner unter Berufung auf den jüdischen Philosophen E. Levinas eine Ethik der Solidarität, der Verantwortung für den Mitmenschen entgegen. Sie gründet sich auf die eigene Leidenfähigkeit und auf ein Menschenbild, das Würde und Einzigartigkeit ohne Bedingungen für alle Menschen, in allen Lebens- und Krankheitsphasen, akzeptiert, unabhängig von ihrer Nützlichkeit, das Lebenssinn vor allem in der Beziehung zum Anderen findet.
Hieraus ist Klaus Dörners kategorischer Imperativ ableitbar, eine Ethik, die ausgeht von den minderwertigsten, randständigsten Menschen, vom "Letzten, bei dem es sich am wenigsten lohnt". Daraus ergibt sich das Ziel "gegenüber der bisher übermächtigen Freiheit die Gleichheit der Menschen gleich stark werden zu lassen", die unbedingte Achtung auch vor dem Niedrigsten, "weil in jedem Menschen der Möglichkeit nach die ganze Menschheit enthalten" ist. Diese Forderung stimmt mit einem christlichen Menschenbild überein, erscheint aber aus der heutigen Perspektive einer Welt, in der nur Geld und Profitmaximierung gelten, utopisch.
Das sollte uns nicht daran hindern, diese Forderung immer wieder zu stellen und zu vertreten, auch wenn Akzeptanz und Erfolgsaussichten noch so gering sind. Ansätze für eine solche Entwicklung sieht Klaus Dörner in der Tatsache, dass im Gegensatz zu den 60er-Jahren, als in der Diskussion um das Bundesentschädigungsgesetz die Betroffenen, Sinti und Roma, Euthanasiegeschädigte, Homosexuelle, Asoziale und Zwangsarbeiter, noch als Objekte, als Dinge vertreten waren, für die Experten sprachen, diese Gruppen in den 80er-Jahren in der gleichen Frage als Subjekte ihre Interessen selbst wahrnehmen konnten.
In die gleiche Richtung weist die Emanzipation der Betroffenen mit der Entwicklung der Psychiatrieerfahrenenbewegung. Die Opfer der sozialen Frage, die Minderwertigen und Ausgegrenzten, setzen sich gegen ihre Verdinglichung zur Wehr und beanspruchen, als Bürger ernst genommen zu werden. Sie finden damit in der Öffentlichkeit Akzeptanz, wenn auch noch viel zu wenig, am wenigsten, wie mir scheint, in der Psychiatrie. Ein eindrucksvolles Beispiel für die Kompetenz der Betroffenen ist der Beitrag von Fredi Saal, der aus der Perspektive des Betroffenen mit allen Versuchen abrechnet, von außen über das Leben anderer, Behinderter zu verfügen oder über dessen Wert zu befinden.
In drei "Fortschreibungen", 1989, 1993 und 2000 werden aktuelle Aspekte der sozialen Frage behandelt, die eine Zuspitzung des Pannewitzblicks, der Trennung von "wertvollen" und "minderwertigen" Menschen bedingen, mit all ihren Folgen, bis hin zur "Abschaffung des Menschen durch den Menschen" (F. Dieckmann): Die wachsende Arbeitslosigkeit nicht nur der Behinderten, die Entwicklung hin zur Zweidrittelgesellschaft, mit der immer mehr Menschen überflüssig und damit Objekte therapeutischer oder disziplinierender Maßnahmen werden, die Zunahme alter und pflegebedürftiger Menschen und die damit verbundenen Fragen der aktiven Euthanasie, der Beihilfe zum Suizid und der Tötung alter Menschen in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen, die Diskussion um die Freigabe der Tötung von Embryonen, Neugeborenen und Behinderten im Rahmen der "Bioethik", präimplantations- und pränatale Diagnostik einer "flächendeckenden Behindertenfahndung und -selektion".
Für mich ist "Tödliches Mitleid" eines der wichtigsten Bücher. Ich wünschte mir, es würde für alle, die in der Psychiatrie tätig sind, zur Pflichtlektüre. Es kann helfen, die Psychiatrie zu humanisieren und die weißen Flecken auszufüllen, die Stigmatisierung, Kontroll- und Ausgrenzungsmechanismen in unserem professionellen Selbstverständnis immer noch sind. Das wäre auch ein Schritt zur Überwindung der unglücklichen Polarisierung zwischen Psychiatrie und Psychiatrieerfahrenenbewegung, von dem, wie mir scheint, der Erfolg der Psychiatriereform wesentlich abhängt.
Darüber hinaus ist das Buch ein Beitrag zur Wertediskussion der Gegenwart, ein Plädoyer gegen die Zerstörung des Humanen und gesellschaftlicher Solidarität durch die Vorherrschaft einer marktwirtschaftlichen Ethik, die die universelle wirtschaftliche Verwertbarkeit als Ziel menschlicher Entwicklung sieht.
Klaus Weise in Sozialpsychiatrische Informationen
Letzte Aktualisierung: 01.05.2024