In den letzten beiden Jahrzehnten erfährt die Geschichtsschreibung über die Morde und Zwangssterilisationen von Menschen mit Behinderungen in der NS-Zeit bemerkenswerte Vertiefungen. Nicht nur psychiatrische Kliniken, Anstalten und Heime, sondern auch Gemeinden, Städte und Kreise, aus denen die Opfer und ihre Familien stammen, stellen sich mit Dokumentationen und Ausstellungen ihrer Vergangenheit.
So liegt es nahe, dass auch gemeindepsychiatrische Träger einen aktiven Beitrag zur regionalen Geschichtsbewältigung leisten. Und manchmal gelingt der Brückenschlag – wenn die persönlichen Leiden der Opfer und ihrer Familien im lokalen Raum sichtbar gemacht werden. Mehr und mehr betroffene Familien brechen nach Jahrzehnten ihr Schweigen, sprechen jetzt über die Opfer in der eigenen Familie. Manche machen sich auch auf die Suche nach historischen Dokumenten wie psychiatrischen Krankengeschichten oder nach »Urteilen« der »Erbgesundheitsgerichte«, um die verloren gegangene Biografie ihrer ermordeten Angehörigen wieder zum Leben zurückzuführen.
Einer der ältesten und profiliertesten Träger der Gemeindepsychiatrie, die Freiburger Hilfsgemeinschaft, hat jetzt ein bemerkenswertes Zeugnis dieser Entwicklung vorgelegt. Sie dokumentiert damit auch die bereits 2015 stattgefundene Ausstellung ihres Arbeitskreises »NS-Euthanasie und Ausgrenzung heute«. In ihrer Begegnungsstätte »Club 55« trifft sich seit 2011 ein historischer Arbeitskreis, dem auch Psychiatrieerfahrene, Angehörige der Opferfamilien und Studierende der Sozialarbeit angehören. Neben der gemeinsamen örtlichen Spurensuche in Freiburg haben sie Bildungsreisen zu Gedenkstätten, Filmvorführungen oder die obige Ausstellung organisiert und jetzt das vorliegende Buch herausgegeben. In acht Kapiteln wird eine umfängliche Dokumentation der damaligen Geschehnisse in Freiburg vorgenommen: von der Vorstellung der beteiligten Gruppen im Arbeitskreis bis hin zu Namensauszügen von Freiburger Opfern aus dem Grafenecker Namensbuch.
Zugleich erfolgt stets die Zuordnung in die generelle NS-Psychiatriegeschichte. Dazwischen ermöglichen die dokumentierten sehr persönlichen Erfahrungen betroffener Familien einen intensiven Zugang zur psychischen und traumatisierenden Belastung dieser Familien. Das Verhaftetsein in der Frage einer möglichen persönlichen Mitverantwortung früherer Angehöriger durch mehr oder minder stillschweigendes Wegsehen kann so durchbrochen werden. Aber auch die Wahrnehmung des damaligen Umgangs der kustodialen Psychiatrie mit Angehörigen, die von ihr ebenso rasch als erbkrank, störend und ausgrenzbar angesehen wurden wie die Betroffenen selbst. Elf Einzelschicksale Freiburger Opfer (Kapitel 7) werden anhand zahlreicher Dokumente plastisch und berührend nachverfolgt; ein besonders gelungenes Kapitel im Buch.
Sehr gut ist auch die Bebilderung mit Dokumenten aus der NS-Zeit und privaten Familienaufnahmen. Innovativ ist ebenfalls der Einbezug der STOLPERSTEIN-Initiative, die in Freiburg neben inzwischen 400 Stolpersteinen jüdischer Opfer nach und nach auch die Namen der »Euthanasie«-Opfer vor dem ehemaligen privaten Zuhause verlegt hat. Ein wichtiger Schritt, um mit den Familien gegen die auf ihnen lastende Stigmatisierung vorzugehen. Damit wird das Schicksal auch dieser Opfer individuell sichtbar, spürbar und berührend. Sie haben wieder ihren Namen an dem Ort, dem sie entrissen wurden. Geschickt ist die qualitative und quantitative Evaluation einschließlich der Auswertung der Medienresonanz dargestellt. Unbehagen haben mir einzelne Ausführungen auf Seite 19 gemacht. Die doppeldeutige These von Götz Aly, Angehörige seien Belastete, sollte nicht unkritisch übernommen werden. Sie bedarf erst recht keiner Entschuldung durch denjenigen, der diese These in die Welt gesetzt hat.
Dies schmälert aber keineswegs den Wert des Buches. Es zeigt, wie lebendig und diskursiv Psychiatriegeschichte noch heute sein kann, besser: sein muss – und sich die unmittelbare Betroffenheit von Familien, Psychiatrieerfahrenen, Studierenden und der Kommune miteinander verbinden. Dies vermag ein rein wissenschaftliches Vorgehen so nicht zu leisten. Lokale Geschichtsschreibung und historische Aufarbeitung durch einen gemeindepsychiatrischen Träger bei zugleich trialogischem Grundmuster – was will man mehr?
Eine kleine Autorinnenliste könnte ggf. im Buch ergänzt werden. Übrigens ist es auch ein gelungenes Projekt einer gemeinsamen Finanzierung aus fast zwanzig Händen: von der Sparkasse bis hin zum ehrenamtlichen Engagement. Das ist Gemeindepsychiatrie in der Bürgergesellschaft. Neben dem Buch liegt auch eine DVD der Freiburger Hilfsgemeinschaft mit einer 55-minütigen virtuellen Stadtführung zu den Orten der »Euthanasie« und des Gedenkens vor.
Christian Zechert in Soziale Psychiatrie
Letzte Aktualisierung: 01.05.2024