Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie
Dachverband Gemeindepsychiatrie
Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen
Psychiatrie Verlag

Brandenburgische Heil- und Pflegeanstalten in der NS-Zeit

Dieses Buch ist eine Zumutung. Immer wieder muss ich es weglegen – weil es mich mitnimmt, belastet, beunruhigt in einem Ausmaß, dass meine Konzentration nicht standhält. Und bin dann wieder gezwungen, es aufzunehmen, weil es mich gepackt hält, weil es mit mir, mit dem Hier und Jetzt zu tun hat.

Dichte und Klarheit

Solche Wirkung kann von einem nüchternen Geschichtsbuch ausgehen, das weder reißerisch noch subjektiv-emotionalisierend geschrieben ist. Es wirkt durch seine Dichte und Klarheit, mit der eine überwältigende Fülle sorgfältig recherchierten Materials angeboten wird.

Der erste Teil beleuchtet in drei Beiträgen "Rechtliche und gesundheitspolitische Maßnahmen auf dem Weg zur Rassenhygiene." Thematisiert wird die Veränderung des Anstaltswesens unter der Naziherrschaft (Kristina Hübener), die Rolle der Juristen als Wegbereiter (Paul Meusinger) und die Veränderung der Krankenpflege (Karl-Heinz Pohlmann/Daniel Wicker).

Im zweiten Teil werden die einzelnen Anstalten und die maßgeblich Verantwortlichen hinsichtlich ihrer Funktionen beschrieben und zueinander in Beziehung gesetzt. Wie die Wege der Patientinnen und Patienten weisen die Kapitel über Brandenburg hinaus in andere Teile des "Reichs", unter anderem ins anhaltinische Bernburg oder ins hessische Hadamar. Der Abschnitt endet mit einem Beitrag von Heinz Faulstich, dem DGSP-Forschungspreisträger von 2000, zum Hungersterben in den brandenburgischen Landesanstalten.

Drittens gehen Stefanie Endlich und Martin Heinze in zwei Aufsätzen der Frage nach, wie der ermordeten Menschen an authentischen Orten angemessen zu gedenken sei. Der Anhang schließlich bietet neben Abbildungsnachweis und Personenregister eine fast siebzig Seiten starke Auswahlbibliographie. Authentischer Ort.

Bilder tauchen auf

Karen Bellin und Dietmar Schulze widmen sich der "Zwischenanstalt" Neuruppin. Tausende zur Verschleierung aufgenommen und weiter verlegt, Hunderte an Krankheit und Hunger gestorben. "Darüber hinaus ist es wahrscheinlich, dass auch in Neuruppin im Rahmen der so genannten dezentralen »Euthanasie«-Patienten gezielt ermordet wurden." (S. 177) Bilder tauchen auf, projizieren sich auf Gebäude und Plätze, die ich täglich um mich habe. Ermordete PatientInnen, verzweifelte und machtlose Angehörige werden spürbar präsent, erhalten Gesicht und Gestalt von Überlebenden, für die ich heute Verantwortung trage.

Die Scham kommt wieder, dass ich vor acht Jahren erst gelernt habe, warum die vierte Station der psychiatrischen Klinik T nicht T4 heißen darf. Kollision mit der Gegenwart. Bischof Wolfgang Huber benennt im Geleitwort die Ethik-Diskussionen um Gentechnik, Sterbehilfe, Tötung auf Verlangen. Er spitzt zu: "Nachdenkliche Stimmen warnen vor einer Entwicklung, die dazu führen kann, dass schwer kranke Menschen eine Genehmigung einholen müssen, um weiterleben zu dürfen." (S. 10).

Gegenwartsbedeutung

Paul Meusinger, Präsident des brandenburgischen Landesamtes für Soziales und Versorgung, vollzieht den Systemwandel von der Weimarer Republik zum NS-Staat nach. Der sei für den Berufsstand der Juristen exemplarisch, so resümiert der Jurist Meusinger, und er habe Gegenwartsbedeutung. Fünf sehr unterschiedliche Verfassungssysteme habe es im 20. Jahrhundert in Deutschland gegeben, denen Juristen nicht nur gedient hätten: " ... sie haben es vielmehr stets verstanden – und zwar die gleichen Personen – aus dem einen in das andere Verfassungssystem überzuwechseln, und es gleichzeitig theoretisch zu begründen, ohne mit der eigenen Vergangenheit in Kollision zu geraten." (S. 60).

Martin Heinze wagt (im Jahr 2000) die These "Ökonomische Zwänge wiegen mehr als Patientenrechte ... Es ist dann die Frage, inwieweit die Gesellschaft noch bereit sein wird, die vom Gesundheitssystem nicht mehr abgedeckten Mittel weiterhin bereitzustellen. Oder ob sie wiederum nach Mitteln sucht, sich dieser Kosten zu entledigen." ( S. 393 f.) Notwendige Zumutungen, unpopuläre Beiträge zur Lage im Land der Täter.

Martin Osinski in Soziale Psychiatrie

Letzte Aktualisierung: 28.03.2017