Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie
Dachverband Gemeindepsychiatrie
Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen
Psychiatrie Verlag

Die Psychologie der anderen

»Sollten Sie in der Beimler-Straße anrufen und fragen, wie viele Menschen die Verzweiflung zwischen Elbe und Oder, zwischen Ostsee und dem Erzgebirge in den Tod getrieben hat, dann schweigt unser Zahlenorakel und notiert sich vermutlich genau Ihren Namen, für die Staatssicherheit, jene grauen Herren, die für Sicherheit sorgen in unserem Land und für Glück.

1977 hörte unser Land auf, Selbstmörder zu zählen. Selbst-Mörder; so nannten sie sie. Dabei hat diese Tat mit Mord doch gar nichts zu tun. Sie kennt keinen Blutrausch, sie kennt keine Leidenschaft, sie kennt nur das Sterben. Das Sterben der Hoffnung.« (Filmzitat aus: »Das Leben der anderen«, Henckel von Donnersmarck, Wiedemann & Berg, 2006

Psychologie ist die Wissenschaft vom Erleben und Verhalten des Menschen – haben wir so gelernt im ersten Semester Psychologie an der Bonner Uni. Wenig später wurde klar, dass wir nicht alle Therapeutin, Gutachter oder Schulpsychologe werden würden. Jenseits des BATTarifgefüges sahen manche von uns angehenden Psychologen deutlich attraktivere Verdienstmöglichkeiten – bei Werbeagenturen, Personalvermittlungen und, ja, auch bei der Vermarktung von Pharmazeutika. Haben wir in der Mensa seinerzeit über Karrieren bei Polizei, Bundeswehr oder Verfassungsschutz diskutiert? Ich erinnere mich nicht …

Die Deutsche Gesellschaft für Psychologie (DGPs), die selbst auf eine spannende und mitnichten bruchfreie Geschichte zurückblickt, hat 2017 die Historische Kommission »Instrumentalisierung der Psychologie in der DDR« gegründet. Das vorliegende Buch »Psychologie als Instrument der SED-Diktatur« gibt in zwölf Kapiteln einen Überblick über Ergebnisse dieser Aufarbeitung. Einführend wird neben den Fragestellungen auch die Entscheidung der DGPs zur Berufung der Historischen Kommission erläutert. Ausschlaggebend waren demnach um 2015 herum ethische Debatten über die Mitwirkung von APAPsychologinnen und Psychologen an der Entwicklung von Verhörmethoden der CIA, die die Grenzen zur Folter überschritten. Außerdem spielten Vermutungen eine Rolle, dass Psychologinnen und Psychologen sowohl bei Manipulationen vor der Trump-Wahl (2016) als auch im Vorfeld des Brexit-Referendums beteiligt gewesen sein könnten.

Unter den Kommissionsmitgliedern bzw. Autorinnen und Autoren ist auch Holger Richter, dessen Dissertation »Die Operative Psychologie des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR« von 2001 bereits in fünfter Auflage (2021) vorliegt. Zu diesem Werk empfehle ich die hervorragende Rezension von Stephan B. Antczack in der SP 04/2022 (Nr. 178). Zwanzig Jahre später begibt Richter sich jetzt (Kapitel 3, S. 57 ff.) auf eine Metaebene, indem er die Nachwende-Forschung zur Rolle der Psychologie in der DDR drei Wellen zuordnet. Zunächst sei es um die Opferperspektive und um die Entdeckung der »leisen Methoden« der Stasi gegangen. Eine zweite Welle habe sich dem Grundlagenstudium und der Systematisierung der Erkenntnisse über die (Operative) Psychologie gewidmet. Bei der dritten Welle stehe nun die Vertiefung der Erkenntnisse sowie die ethische Einordnung im Fokus.

Richters Beitrag nähert sich der Fragestellung genau wie die anderen elf Kapitel mit erfreulicher Gründlichkeit und wissenschaftlicher Neutralität. Der Buchtitel benennt eindeutig die »SED-Diktatur« als Rahmen des Geschehens. Danach geht es historisch redlich und angemessen differenziert weiter. Dennoch – oder gerade deswegen – will bei der Lektüre kein Lesevergnügen aufkommen. Besonders bei der akribischen und dadurch schonungslosen Schilderung der Karrieren mancher Kollegen (100 Prozent Maskulinum, kein Gendern nötig) überkam mich immer wieder ein deprimierendes Gefühl der Hilflosigkeit. Parteihörigkeit, null Interesse an wissenschaftlicher Redlichkeit oder Unabhängigkeit, Karrieregeilheit, Intrigen, und das alles nicht nur an der Stasihochschule Potsdam-Eiche, sondern auch in Jena, Leipzig, Berlin …

Wer nach der Hälfte des Buches genug hat von den trüben Einblicken in die Abgründe miefiger pseudowissenschaftlicher Institute möge beherzt zum letzten Kapitel springen: »Von, aus oder in der Auseinandersetzung mit der Geschichte lernen? Zum Verhältnis von Psychologiegeschichte und Professionsethik« ist der Beitrag von Ulrich Koch übertitelt. Auch dies nicht wirklich leichte Lektüre, geht es doch um eine Reihe unabweisbarer Fragen an forschende und praktizierende Psychologinnen und Psychologen: »[…] Wer bestimmt, was eine Normverletzung darstellt und was ethisch vertretbar ist? Und wie immun sind die gegenwärtigen Strukturen gegenüber äußerer Einflussnahme und fachfremden Machtinteressen?« (S. 222) Unbequeme und notwendige Lektüre.

Martin Osinski in Soziale Psychiatrie

Letzte Aktualisierung: 01.05.2024