Die 2021 im Grizeto Verlag im Auftrag des Bildungswerks Irsee des Bayerischen Bezirketags erschienene Publikation widmet sich einem im Rahmen der Forschungen zur »Euthanasie«-Geschichte noch immer vergleichsweise wenig beachtetem Thema – den Angehörigen der Opfer. In der Studie gibt der Historiker und ausgewiesene Kenner der NS-Psychiatriegeschichte Dietmar Schulze den Familien der »Euthanasie«-Opfer der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee eine Stimme. Die Basis der Arbeit bildet die Korrespondenz von Angehörigen mit der Anstalt von den 1930er Jahren bis 1950; ergänzt wird das Buch durch eine Auflistung der Irseer »Euthanasie«-Opfer und durch Gespräche, die der Journalist und Autor Robert Domes in den letzten Jahrzehnten mit Angehörigen geführt hat.
In der Einführung erinnert Schulze an die Arbeit von Götz Aly (»Die Belasteten«), in der die Angehörigen unter Verdacht gestellt wurden, sie hätten die Tötung ihrer Familienmitglieder zumindest stillschweigend akzeptiert. Schulze betont, dass sich auf der Basis des von ihm ausgewerteten Quellenmaterials generalisierende Aussagen verbieten würden. Seine Analyse fokussiert sich auf die Teilanstalt Irsee und wertet die Krankenakten der »Euthanasie«-Opfer sowie eine umfangreiche Sammlung von Schriftstücken aus, die die Anstalt nach dem Abtransport der Patientinnen und Patienten keiner Krankenakte zuordnen konnte. Dabei gliedert Schulze das Material in drei zeitliche Abschnitte: 1940/41 (Gasmord in Grafeneck und Hartheim), 1944/1945 (dezentrale »Euthanasie«) und 1946 bis 1950 (nach dem Patientenmord). In jedem dieser Abschnitte dokumentiert und analysiert der Autor die Korrespondenzen von Angehörigen mit der Anstaltsleitung und zieht eine Zwischenbilanz.
In der ersten Phase der »Euthanasie« hatte es die Anstalt als »Abgabeanstalt« unterlassen, die Angehörigen – ausgenommen, sie selbst waren Kostenträger – über die Verlegung der Patientinnen und Patienten zu informieren. Daher bezogen sich die Briefe der Angehörigen vorwiegend auf Fragen zum Grund und Ort von Verlegungen, auf die sie beispielsweise durch die Rücksendung von Paketen aufmerksam wurden. In den Briefen fehlten, so Schulze, zustimmende Äußerungen zum Krankenmord bzw. zum »Euthanasie«-Programm.
In der zweiten Phase, der dezentralen »Euthanasie«, fungierte Kaufbeuren-Irsee als Tötungsanstalt. In Unwissenheit dieses Faktums bedankten sich einzelne Angehörige für die Pflege der Patientinnen und Patienten, schickten sogar Geld. Angehörigen, die für einen Besuch anreisten, stellte die Anstalt Übernachtungsmöglichkeiten auf dem Gelände zur Verfügung. Und die Angehörigen zeigten Verständnis für die angespannte Situation in der Anstalt. Deutliche Unmutsäußerungen habe es in Einzelfällen über die Art und Weise der Bestattung gegeben.
Die Zäsur nach 1945 spiegelt sich am ehesten in der Grußformel – statt »Heil Hitler!« nun »Hochachtungsvoll« oder »Mit besten Grüßen« – wider. Der Briefinhalt habe sich, so Schulze, hingegen kaum geändert. Andererseits nutzte die Anstaltsleitung den Kontakt zu im Ausland lebenden Angehörigen, um dringend benötigte Medikamente und Medizintechnik zu erhalten.
Eine Antwort auf die zu Anfang aufgeworfene Frage nach der Haltung der Angehörigen zu den Patiententötungen, so resümiert Schulze, könne auch nach der Auswertung der Irseer Korrespondenz nicht endgültig gegeben werden.
In der Einleitung zu seinen Angehörigengesprächen betont Robert Domes die heilsame Wirkung des Aufdeckens und Erinnerns. Aus Scham war in vielen Familien das Schicksal der getöteten Angehörigen verschwiegen worden – eine Folge der Selbststigmatisierung. Aus seiner Erfahrung sei es jedoch wichtig, sich mit diesen Schicksalen zu beschäftigen, Trauer zuzulassen, einen Abschied zu ermöglichen und damit die toten Angehörigen zu integrieren. Die Familien von Scham, Angst und Schuldgefühlen zu befreien, versteht Domes auch als Möglichkeit, etwas gegen die heutige Stigmatisierung behinderter und psychisch erkrankter Menschen zu tun.
»Ich bin stolz, dass die Wahrheit ans Licht gekommen ist. Mir wurde leichter ums Herz, als alles aufgeführt wurde von den Autoren im Buch. Es war teuflisch, was man meinem Bruder und meinem Vater angetan hat … Ich hätte meinen Bruder gerne noch mal sehen wollen. Es hat nicht sollen sein …«, sagt Amalia Speidel in den Erinnerungen an ihren Bruder Ernst Lossa, dessen Geschichte durch Michael von Cranach und den Film »Nebel im August« bekannt geworden ist. Sie spricht darüber, wie sie und ihre Schwester sich von Ernst im Kinderheim verabschiedeten, wie eine Postkarte kam, auf der geschrieben stand, dass es ihm gut ginge. Einmal habe ihr Vater sie im Heim besucht und sie hätten danach zu hören bekommen, der »Zigeunerpapa« sei da gewesen. Als sie in den 1980er Jahren das Grab von Ernst auf dem Klosterfriedhof besucht habe, seien ihr die Tränen gekommen.
Thomas R. Müller in Soziale Psychiatrie
Letzte Aktualisierung: 01.05.2024