Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie
Dachverband Gemeindepsychiatrie
Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen
Psychiatrie Verlag

Nachdenken hilft – Seidels Reise durch die Psychiatrie

Die Psychiatriereform in Deutschland ist in die Jahre gekommen, an vielen Stellen gibt es Stillstand und Fehlentwicklungen. Nach einem Vorlauf ab Ende der 1950er­ Jahre hat­te sie mit der Veröffentlichung der Psychiat­rie Enquete 1975 richtig Fahrt aufgenommen und die Hilfen für psychisch erkrankte Men­schen deutlich verbessert. Für eine Analyse der aktuellen Situation als Basis einer Pla­nung zum weiteren Vorgehen sollten wir auch den Reformverlauf seit ihren Anfän­gen in den Blick nehmen – Nach­Denken hilft. Um hierbei klarer zu sehen, brauchen wir aussagekräftige Dokumente zur allge­meinen Entwicklung und zu regionalen Besonderheiten, in Archiven gesichert und von Fachleuten ausgewertet. Dazu gehören auch Berichte von Zeitzeugen, die uns ihre Geschichten erzählt haben.

Zeitgeschichte der Psychiatrie heißt eine neue Reihe des Psychiatrie Verlags, die sich dieser Aufgabe widmet. Herausgegeben wird sie von Heiner Fangerau, Felicitas Söhner und Thomas Becker. Fangerau ist der Direk­tor, Söhner eine Mitarbeiterin des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medi­zin der Heinrich­Heine­Universität Düssel­dorf. Becker, ein sozialpsychiatrisch enga­gierter Universitätspsychiater, ist nach seiner Verabschiedung in Günzburg und Ulm jetzt Seniorprofessor in Leipzig. Söhner veröffent­lichte 2020 das erste Buch der Reihe mit dem Titel »Psychiatrie­Enquete: mit Zeitzeugen verstehen«, eine akribisch recherchierte und spannend zu lesende Oral History der Psy­chiatriereform in der BRD. Dabei ermittelte sie 56 zentrale Akteure des Reformprozesses und befragte 29 von ihnen. Die Dringlichkeit ihrer Arbeit zeigt sich darin, dass drei ihrer 29 Gesprächspartner noch vor Erscheinen des Buches verstarben; soweit ich weiß, kamen bis Herbst 2022 noch fünf dazu, und minde­stens weitere zwei könnten solche Gespräche heute nicht mehr führen.

Ralf Seidel, einer der damals interviewten zentralen Akteure, steht im Mittelpunkt des zweiten Buchs dieser Reihe, es heißt »Nachdenken hilft – Seidels Reise durch die Psychi­atrie«. Im Zentrum steht das 130 Seiten um­fassende Transkript von acht ausführlichen Gesprächen, die Söhner und Becker mit Seidel geführt haben. Ausschnitte lassen sich über Audiodateien im Internet anhö­ren (https://psychiatrie­verlag.de/product/ nachdenken­hilft/). Vorweg gibt es Erläu­terungen zur Buchreihe und ein Vorwort von Fangerau sowie eine Skizze zu Seidels Lebenslauf. Im Anschluss an die Gespräche folgen interessante Reflexionen von Söhner und Becker zur Vielfalt der Themen und zu der in den Erzählungen sinnlich erlebbaren Dimension der Zeit (Mimesis). Seidel selbst hat auch noch eine ans Herz gehende Nach­betrachtung verfasst. In einem 40­seitigen Glossar findet man Informationen zu allen 224 Personen und Organisationen, die in den Gesprächen genannt wurden. Am Ende stehen Hinweise zur zitierten Literatur und Seidels Publikationsliste.

Psychiatrisch ließ sich Seidel bei frühen Leitfiguren der gemeindepsychiatrischen Reform »aus der Klinik« ausbilden: in Mönchengladbach bei Alexander Veltin und in Hannover bei Karl Peter Kisker und Erich Wulff. 1984 trat er die Nachfolge von Veltin an und leitete die Klinik 23 Jahre; ganze 36 Jahre war er Redaktionsmitglied bei der Zeitschrift »Sozialpsychiatrische Informationen« (SI). Seidel engagierte sich in vielen Vereinen, Verbänden und Fachgesell­schaften mit Bezug zur Psychiatrie, Kunst und Philosophie. Die Auseinandersetzung mit der Psychiatrie im Nationalsozialismus hat ihn intensiv beschäftigt, und sie bildet den Kern seiner Berufsethik. Im Buch erfah­ren wir auch, wie viel Sicherheit ihm die ba­yerische Heimat mit ihrer Umgänglichkeit und Umständlichkeit vermittelte – in Mün­chen wuchs er auf, Regensburg wurde seine Lieblingsstadt. Seine jüdischen Wurzeln – Seidels Mutter überlebte die Nazizeit im Un­terschied zu mehreren anderen Mitgliedern ihrer Herkunftsfamilie – dagegen waren ein Aspekt andauernder Verunsicherung und Suche.

Die Gespräche drehen sich um elf nachei­nander aufgerufene Themenkreise, die den Lebens­ und Berufsweg von Ralf Seidel in besonderer Weise geprägt haben und für die Lektüre des Buches eine gute Gliederung abgeben. Beim Lesen spürt man die dichte Atmosphäre, von denen die drei Gesprächs­partner nach eigenem Bekunden teilweise »sehr mitgenommen« waren, im Sinne von fasziniert, berührt, angestrengt. Es würde den Rahmen einer Rezension sprengen, wollte ich versuchen, hier die besprochenen Inhalte im Einzelnen nachzuzeichnen. Wer das Buch liest, saugt sie auf, bekommt neue Ideen und Lust auf weitere Lektüre. Ich z. B. las noch einmal »Die psychiatrischen Pa­tienten im Nationalsozialismus« aus dem Handbuch »Psychiatrie der Gegenwart« (mit Joachim­Ernst Meyer; 3. Aufl., Band 9; 1989) und den Vortrag »Ralf Seidel selbdritt« des Philosophen Peter Strasser (SI­Heft 4/2001).

Wer Seidel kennt, der weiß, wie zugewandt, sanft, rücksichtsvoll und umgänglich er auf seine Dialogpartner zugeht, immer Verstän­digung suchend und Konfrontation ver­meidend. Dazu passt die Charakterisierung seiner Chefsekretärin, die schon für Veltin gearbeitet hatte: Der sei »gerade« gewesen, Seidel »rund«. In den Gesprächen mit Söh­ner und Becker macht er an vielen Stellen deutlich, wie sehr ihn das Weite und Frem­de anzog, jenseits des Abgegrenzten und für sich Stehenden, fragend, was sich da­zwischen, daneben, darüber und darunter befindet. Er zeigt, wie Psychiatrie und Philo­sophie, Geschichte und Kunst sich wechsel­seitig beleuchten, hinterfragen und anrei­chern, sobald wir die Grenzen zwischen ih­nen überschreiten, ohne uns aufzudrängen, und uns der Fremdheit aussetzen, ohne uns zu verlieren. In großem Respekt vor den Un­terschieden und Eigenarten aller Dinge gilt Seidels Neugier den Ähnlichkeiten und Ver­bindungen, dem gemeinsamen, übergeord­neten Sinn. Dabei weiß er, dass die Begriffe, die wir zur Verständigung beim Zuhören und Reden, Lesen und Schreiben benutzen, das Wichtigste höchstens vage andeuten können.

Bereits Söhners Oral History der Psychiatrie­reform hat mich sehr interessiert und mir unerwartete Einsichten verschafft. Jetzt bin ich Seidels Reise durch die Psychiatrie  mit solcher Begeisterung gefolgt, dass ich schon nach zwei Tagen damit durch war. Ich empfehle das Buch allen, die wissen wollen, was einen der zentralen Akteure der Reform angetrieben hat. Ich erfuhr viel Neues und kann jetzt manches anders sehen, obwohl ich Seidel seit 1986 über die Mitarbeit in der SI­Redaktion kenne und sein Interesse für Geschichte, Ethik und Philosophie der Psychiatrie teile. Kompliment auch an die Herausgeber und viel Erfolg bei der Fortset­zung der Buchreihe!

Hermann Elgeti in Psychosoziale Umschau

Letzte Aktualisierung: 01.05.2024