Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie
Dachverband Gemeindepsychiatrie
Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen
Psychiatrie Verlag

Alltag in der Psychiatrie

Das hier zu rezensierende Buch stellt Teil II des Bandes 27 einer Buchreihe des LVR zu seiner Geschichte dar, die den Titel hat: »Anstaltswelten. Psychiatrische Krankenhäuser und Gehörlosenschulen des Landschaftsverbandes Rheinland nach 1945«. Die beiden Autorinnen beschreiben in dem Buch unterschiedliche, nach 1970 einsetzende Reformprozesse der Kliniken des LVR, die sie vor allem anhand dreier Landeskliniken illustrieren: des Landeskrankenhauses Brauweiler, der Rheinischen Landesklinik Mönchengladbach und der Landesklinik Bedburg Hau.

Das Besondere an diesem Buch ist, dass sie die Prozesse unter verschiedenen Perspektiven beleuchten, nicht nur unter Zuhilfenahme »offizieller« Dokumente und Geschichtsschreibung, sondern vor allem mittels Auswertung meist eigens durchgeführter Interviews und privater Archive von politischen Akteuren des LVR, beteiligter Ärztinnen, Ärzte und Pflegende der Landeskrankenhäuser sowie – in der Hauptsache – ehemaliger Patientinnen und Patienten der betroffenen Kliniken. Herausgekommen ist eine ungemein differenzierte und geradezu »dichte Beschreibung« (Geertz) unterschiedlicher Prozesse, die einen tiefen und auch sehr berührenden Einblick in die Schwierigkeiten der bundesdeutschen Psychiatriereform erlauben. Zunächst beschreibt Andrea zur Nieden die Rahmenbedingungen, die zu den Reformen führten, und den Verlauf der Reformen. Was hierbei hervorsticht, ist die Erkenntnis, dass der »Reformprozess« nicht als einer beschrieben wird, der einer einheitlichen Logik folgt, sondern, am Beispiel der LVR, dass der Wandel von der Verwahrpsychiatrie zur gemeindenahen Psychiatrie lange Zeit sehr partiell, lokal und zum Teil sehr konfliktbehaftet verlief. Dies gilt auch für die zum Teil unglaublich katastrophalen baulichen, hygienischen und personellen Rahmenbedingungen. Die Resilienzen der »Totalen Institutionen« erwiesen sich als recht nachhaltig.

Im Hauptteil des Buches befassen sich die beiden Autorinnen mit den unterschiedlichen Wegen, die anhand dreier Landeskliniken nachgezeichnet werden. So beschreibt Andrea zur Nieden den Prozess, der letztendlich zur Schließung des Landeskrankenhauses Brauweiler geführt hat. Brauweiler hatte eine wechselvolle Geschichte als »Arbeitsanstalt«, in die auch Strafgefangene zur »Korrektur« eingewiesen wurden, und entwickelte sich nach dem Krieg als ein Landeskrankenhaus mit einem Schwerpunkt der »Behandlung« von suchtkranken Menschen. Wegen der schlimmen herrschenden Zustände kam Brauweiler schon Ende der 1960er Jahre ins Gerede. Zur Schließung führte dann die Aufdeckung von Todesfällen durch die »Sozialistische Selbsthilfe Köln« (SSK), die auch die schrecklichen Zustände der patriarchalautoritären Verwahrpsychiatrie mit ihren unglaublichen Überdosierungen, Misshandlungen, Gewaltexzessen und Demütigungen offenlegte. Zahlreiche Patientinnen und Patienten starben an Überdosierungen oder an ihren nächtlichen Fluchtversuchen durch Abseilen an der sogenannten »Eiger Mordwand«. Trotz einiger Versuche, die Anstalt zu modernisieren, die großen Wachsäle abzuschaffen und neue (Sucht-)Konzepte einzuführen, herrschte in der Anstalt weiterhin ein Klima der konzeptlosen Gewalt und Willkür. Die Reformerinnen und Reformer wurden von den »herrschenden« ärztlichen und pflegerischen Machtgruppen wegen »Störungen des Betriebsfriedens« abgebügelt. 1978 kam es zum Prozess und es wurden einige Ärztinnen, Ärzte und Pflegende zu Haftstrafen verurteilt, darunter auch der Klinikleiter Stockhausen. Der damals schon beim LVR tätige Caspar Kulenkampff hat – folgt man zur Nieden – in dem ganzen Prozess eine nicht wirklich gute Figur gemacht. Was bei der Lektüre sehr beeindruckend ist, sind die Schilderungen der ehemaligen Patientinnen und Patienten über die unsäglichen Zustände in der Klinik, die Abwehr von Reformen durch das traditionelle Personal und das Lavieren des LVR. Zur Nieden kommt zu dem Schluss, dass der öffentliche Diskurs viel weiter und offener war als der Diskurs innerhalb der Kliniken.

Am Beispiel der Rheinischen Landesklinik Mönchengladbach-Rheydt schildert Karina Korecky den Weg einer reformorientierten Klinik und den Aufbau der Gemeindepsychiatrie. Natürlich ist dieser Weg eng verbunden mit Alexander Veltin oder auch Ralf Seidel, die aus der Tages- und Nachtklinik eine reform- und rehabilitationsorientierte Klinik sowie ein gemeindepsychiatrisches Verbundsystem mit einer Reihe von außerklinischen Einrichtungen entwickelten. So wurden gruppentherapeutisch orientierte Programme entlang des Prinzips der »Therapeutischen Gemeinschaft« eingeführt, teamorientiertes Arbeiten, und die Verweildauern wurden wesentlich verkürzt. Allerdings, so Korecky, hat Letzteres auch mit der Umetikettierung der Langzeitbereiche in Heime zu tun, sodass eine große Gruppe von Langzeitpatientinnen und -patienten aus der Statistik »verschwand«. Zwar wehte nun ein frischer Wind durch das Krankenhaus mit seiner neuen (Gruppen-)Orientierung, allerdings wurde dies nicht von allen Patientinnen und Patienten begrüßt. Aus den Interviews geht hervor, dass sich einige überfordert fühlten, die Kontrolle anders aber nicht weniger wurde und auch Medikamente und Zwang weiterhin eine Rolle spielten. Mit dem Aufbau eines Trägervereins des außerklinischen Bereiches, insbesondere der Sozialpsychiatrischen Zentren, nahm der LVR die aktuelle Diskussion der »Szene« auf und erweiterte damit gleichzeitig seine eigenen Möglichkeiten der politischen Steuerung. Auch hier ist sehr gut nachzuvollziehen, wie mühselig der Reformprozess war und dass auch nicht alle Patientinnen und Patienten auf einem Mal zu Verbündeten wurden. In Mönchengladbach ist es, so Korecky, zwar gelungen, die »Anstalt« hinter sich zu lassen, jedoch das Credo der Sozialpsychiatrie, »die Aufhebung der Trennung von Gemeinde und Psychiatrie«, konnte sich nur teilweise erfüllen.

Anhand der Entwicklung der Landesklinik Bedburg-Hau zeichnet Karina Korcky einen in sich widersprüchlichen Prozess nach. Bedburg-Hau war mit mehr als 3.000 Betten das größte Landeskrankenhaus des LVR und hatte einen speziellen Ruf als Verkörperung einer »totalen Institution« und »Auffangbecken« von chronisch Kranken aus dem gesamten Rheinland. Die Verweildauer war außerordentlich hoch. Viele Menschen waren 20 Jahre oder länger in der Klinik, die Verhältnisse in der Klinik waren zum Teil katastrophal. Es gab Stationen mit mehr als 60 Patientinnen und Patienten in einem Raum, in deren Mitte ein Lattenkäfig für die Aggressiven errichtet war. Schläge und Misshandlungen für geistig behinderte Kinder waren nicht unüblich. Die Toiletten waren zum Teil freistehend, Handtücher und Zahnbürsten waren Mangelware und mussten für mehrere Personen reichen. An Privatleben, Eigenständigkeit und Selbstbestimmung war überhaupt nicht zu denken. Zwang, Gewalt und eine heute fast unglaubliche Übermedikalisierung bzw. (auch) disziplinarische Sedierung war an der Tagesordnung. Qualifiziertes Personal war bis 1990 fast nicht vorhanden. 1981 führte der Tod eines Patienten, Peter Adler, zu einem in der Öffentlichkeit breit diskutierten Skandal, an dem wieder das SSK beteiligt war. Es kam zum Prozess. Korecky zeigt eindrücklich anhand der Aktenlage, dass Gewalt im psychiatrischen Alltag nicht nur über die Anwendung mechanischer oder chemischer Zwangsmittel hinausging, sondern dass »die Kombination mehrerer Ursachen seinen [Peter Adler, Anm. des Autors] Tod verursachte« (S. 243). In der Folge entstand in Bedburg Hau eine »Ärzteinitiative«, die Reformen einforderte. Korecky schildert ausführlich den mühseligen Kampf dieser Initiative, die auf massiven Widerstand der übrigen Klinikmitarbeitenden und im LVR stieß. Auch hier zeigte sich wieder, dass klinikintern nicht mit dem öffentlichen Bewusstsein und Diskurs mitgehalten werden konnte.

Erst ab den 1990er Jahren sorgte aufgrund des öffentlichen Drucks ein Investitions- und Enthospitalisierungsprogramm für Reformen. In einem weiteren Teil des Buches zeigt Andrea zur Nieden resümierend die »Gleichzeitigkeit gegensätzlicher Zustände«, in der der Goffman’sche Begriff der »Totalen Institution« im Mittelpunkt steht. Auch hier wird noch einmal eindrücklich dargestellt, dass die Sozialpsychiatrie keineswegs einen »Marsch« durch die Institutionen veranstaltete, sondern dass es sich eher um einen Prozess von Kämpfen, Schleichen, Lavieren und Stolpern handelte, da die jungen Sozialpsychiaterinnen und -psychiater vielfältigen Fallen und Knüppeln ausweichen mussten, die ihnen vom Kollegium in den Weg gelegt wurden. Darüber hinaus zeigen zur Nieden und Korecky anhand ihrer Interviews mit (ehemaligen) Patientinnen und Patienten, dass auch bei ihnen die Reformen nicht unbedingt auf Gegenliebe stießen. Fortschrittliche Therapiekonzepte finden nicht unbedingt Anklang, und von einigen wird die Atmosphäre in den modernen Kliniken als »kalt und unmenschlich« beschrieben.

Zum Abschluss des Buches wird es theoretisch. Enric J. Novella und Thomas Noack stellen unterschiedliche Erklärungsmodelle für die Veränderungen in der Versorgungslandschaft vor. Dies ist ein wichtiges Buch, denn es zeigt eindrücklich, dass sich die Zustände in der bundesdeutschen Psychiatrie nicht von selbst nach der Enquete 1975 änderten, sondern dass die »unwürdigen und menschenunwürdigen Verhältnisse« noch bis weit in die 1990er Jahre reichten. Anzunehmen ist, dass sie hier und dort immer noch vorhanden sind. Was das für furchtbare Verhältnisse waren, schildern die beiden Autorinnen sehr anschaulich und berührend, vor allem anhand der Interviews mit den Patientinnen und Patienten. Indirekt wird auch deutlich, welch ein mühseliger Prozess es für die damals jungen Sozialpsychiaterinnen und -psychiater aller Berufs-gruppen war, die Reformen in der Psychiatrie und Politik umzusetzen. Dieses nachvollziehen zu können, ist meines Erachtens insbesondere für jüngere Kolleginnen und Kollegen in der Psychiatrie zu empfehlen. Vor dem geschilderten Hintergrund lassen sich auch das Insistieren der Psychiatrie-Erfahrenen und ihrer Verbände auf die Einlösung der Menschenrechte und UN-BRK in der gesamten psychosozialen »Versorgung« besser verstehen.

Christian Reumschüssel-Wienert in Soziale Psychiatrie

Letzte Aktualisierung: 01.05.2024