»Goa-Partys sind eine neue Erscheinungsform der Rauschgiftkriminalität, die zunehmend professionellen Veranstaltern eine Plattform für Drogenhandel-, -erwerb und -konsum bieten.« Monika Schmitt, 2004.
Mitte der Neunzigerjahre des 20. Jahrhunderts, irgendwo in der niedersächsischen Provinz. Florian Reisewitz besucht die Oberstufe eines Gymnasiums. Er ist ältestes von drei Kindern, gilt als sehr begabt. Die Eltern sind studierte Pädagogen, im Alltag aber vielbeschäftigte Inhaber einer Vollkornbäckerei. Seine Freizeit verbringt Florian, wie viele seiner Altersgenossen, auf Partys, Konzerten oder Festivals. Alkohol gehört früh dazu, Cannabis mit sechzehn, schließlich fast das ganze Spektrum der halluzinogenen Substanzen. Das Abitur scheint er problemlos geschafft zu haben, es wird nicht näher erwähnt. »Es begann der lange Sommer. Im Juni wurden wir von der Schule entlassen, der Zivildienst sollte erst im September beginnen. Ich nahm so viele Partys mit, wie ich konnte.« (S. 21)
Mehr als zwanzig Jahre später veröffentlicht Florian Reisewitz seine autobiografischen Erinnerungen an diesen Sommer und die folgenden Jahre. Im Klappentext heißt es ebenso knapp wie unmissverständlich: »… erkrankte während seines Zivildienstes das erste Mal an einer schizoaffektiven Psychose. Er studierte Germanistik, Politik und Soziologie in Hamburg. Seit April 2018 ist er fest in einer anerkannten Werkstatt für angepasste Arbeit in Bremen angestellt.«
Auf gut 180 Seiten ist Reisewitz eine schonungslose, offenkundig sehr ehrliche Schilderung dieser Jahre gelungen. Die Suche nach Nähe, Wärme, Zugehörigkeit zu einer Szene, aber auch nach Liebe und einer Paarbeziehung zieht sich durch den Text. Angenehme ebenso wie horrormäßige Drogenerfahrungen werden differenziert geschildert, mit angemessener Distanz, jedenfalls ohne Glorifizierung. Die Beschreibung der insgesamt vier psychotischen Schübe erinnert ein wenig an Dorothea Bucks Klassiker »Auf der Spur des Morgensterns«. Ob Reisewitz bei der Altmeisterin nachgeschlagen hat? Auch das wäre in Ordnung, in jedem Fall ist es eine sehr gute schriftstellerische und Erinnerungsleistung.
Meine zweite Assoziation – zu Christiane F.s »Wir Kinder vom Bahnhof Zoo« – hinkt dagegen stärker. Die unerbittliche Härte der körperlichen Substanzabhängigkeit ist Florian Reisewitz erspart geblieben, ebenso das Elend der Beschaffungskriminalität und -prostitution. Die finanzielle Seite des Drogenkonsums spielt überhaupt keine Rolle im Buch. Das liegt vielleicht an dem eher bürgerlichen Umfeld. Auch ohne soziale Verelendung und Kriminalisierung sind die Folgen des Drogenkonsums verheerend, und das kommt unmissverständlich rüber.
Florian Reisewitz hadert nicht, klagt niemanden an und erteilt keine Ratschläge. Das ist wohltuend. »Von Goa nach Walsrode« ist in der Reihe »BALANCE erfahrungen« erschienen, steht im Regal also nicht bei den Ratgebern. Gerade deshalb möchte man es dem ein oder anderen jungen Wilden in die Hand drücken. Oder nein, besser unauffällig irgendwo in seinem Blickfeld liegen lassen …
Martin Osinski in Soziale Psychiatrie
Letzte Aktualisierung: 26.04.2024