Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie
Dachverband Gemeindepsychiatrie
Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen
Psychiatrie Verlag

Averroès & Rosa Parks

Zwei Einheiten der psychiatrischen Klinik »Esquirol« in Paris heißen »Avarroès« und »Rosa Parks«. Nicolas Philibert ist also nach seinem unglaublichen Erfolg mit »Sur l’Adamant« in der Pariser Psychiatrie geblieben. Er hatte es bei der Pressekonferenz bereits angekündigt. Nun also der Dokumentarfilm »Avarroès und Rosa Parks« in der Sektion Berlinale Special.

Das großflächige Klinikgelände ist dank einer Drohne von oben zu sehen: riesige Blöcke, in Quadraten arrangiert. Ein Pfleger meint: Gefängnisse, Kasernen und Krankenhäuser sehen so aus. Auch einige Patienten schauen sich auf Laptops die Aufnahmen an und sind begeistert. Ob die Stationen gut ausgestattet sind, kann man nicht erahnen. Manchmal sind im Hintergrund bei den Gesprächen Zimmerpflanzen zu sehen. Eine kleine, selbstgezimmerte Kaffeebar wird in den Aufenthaltsraum geschoben: »Das erste Getränk ist frei.« Es gibt aber viele Freiflächen zwischen den Trakten. Ein Patient spaziert im Handstand unter einer Pergola und lacht.

Der Film ist auf der Berlinale in französischer Sprache mit englischen Untertiteln zu sehen. Er besteht fast ausschließlich aus Einzel- und Gruppengesprächen; nur mit viel Konzentration gelingt es, zuzuhören und gleichzeitig zu übersetzen.

In den ersten Gesprächen, die zur Vorbereitung der Entlassung dienen, wird das »L’Adamant« vom Klinikpersonal häufig genannt. Man scheint zu wünschen, dass der schwimmende Treffpunkt als Anlaufstelle genutzt wird, genau wie wir unseren Patienten und Patientinnen raten, den Patientenclub oder die Kontakt- und Beratungsstelle zu besuchen. Etliche Mitglieder der Equipe scheinen auch regelmäßig auf dem Therapieschiff zu arbeiten. In diesen langen und mit bemerkenswerter Geduld geführten Gesprächen geht es ganz konkret um die Perspektiven: um einen Platz im Betreuten Wohnen oder häufig – für uns ungewohnt – um einen Platz in einer Gastfamilie. Medikamente werden thematisiert, mal abgelehnt, mal heftig verteidigt. Fast alle Patienten scheinen langjährige Psychiatrieerfahrung hinter sich zu haben. Vor allem zwei ältere Frauen beeindrucken ungeheuer: Ein schweres Leben hat sich in ihre Gesichter eingegraben. Eine meint, sie müsse immer unterwegs sein, sie müsse reisen. Und fügt sich dann doch in die Planung des Entlassmanagements. Philibert gönnt uns nur wenig Entspannung zwischen den vielen Einzelgesprächen. Wir nehmen an einigen Gruppen teil oder werfen einen Blick in den Außenbereich.

Philibert verrät uns die Profession der Profis nicht. Im Presseheft ist zu lesen, dass er keine Berufsbezeichnungen unter die Aufnahmen setzen wollte, weil er sonst auch die Patienten und Patientinnen hätte benennen müssen. Im Abspann sind allerdings alle genannt. Drei der Profis sind Sozialarbeiter:innen, aber auch Ärzte und Ärztinnen, Praktikantinnen, Psychologen und Psychologinnen sind beteiligt. Das Personal trägt Maske, die psychisch kranken Männer und Frauen nicht. Ein paradoxes Stigma? Ob dieser etwas anstrengende Dokumentarfilm ein großes Publikum finden wird? Vielleicht wenigstens einen Verleih.

Ilse Eichenbrenner in Soziale Psychiatrie

Letzte Aktualisierung: 02.06.2024