In vielen Städten gibt es ja diese Festivals mit Dokumentarfilmen. Berlin ist da gar nicht besonders avantgardistisch; Leipzig, Hamburg, München zeigen häufig die neuesten Produktionen schon viel früher, bevor sie dann im Fernsehen laufen.
Bei einem Dokfilmfestin Berlin hatte ich im August endlich Gelegenheit, den Forensik-Film „Andere Welt“ von Christa Pfafferott anzuschauen. Er wurde bereits auf mehreren Festivals gezeigt; im Mai 2014 ist die Regisseurin mit dem Marlies-Hesse-Nachwuchspreis des Journalistinnenbundes ausgezeichnet worden. Ich hatte im Vorfeld schon davon gehört, dass es einer jungen Filmemacherin gelungen sei, auf einer forensischen Frauenstation zu drehen.
„Andere Welt“ ist ein beachtliches Werk, das seinen Blick sehr feinfühlig, respektvoll und ohne zu werten auf genau jene Schnittstelle richtet, die uns als psychiatrisch Tätige wohl am meisten interessiert: Auf die konkrete Konfrontation zwischen schwierigen, vielleicht sogar gefährlichen psychisch kranken Menschen und den Profis, die im Auftrag der Gesellschaft pflegen, sichern und disziplinieren müssen.Immer wieder beginnt der Arbeitsalltag vor einer ganz besonders gesicherten Drehtür. Das Handy muss abgelegt werden. Dann fordert eine Stimme die Krankenschwester auf, in das blaue Licht zu schauen, bis die Retinaerkannt wird und die Stimme meldet: sErkennung erfolgreich verlaufen. Die Tür öffnet sich.
Der Film konzentriert sich auf jeweils drei Frauen: Drei junge Patientinnen und drei Krankenschwestern. Vermutlich erklärt sich die Auswahl durch ihre Bereitschaft, bei den Dreharbeiten mitzuwirken, glücklicherweise. Drehort ist eine Frauenstation, und insbesondere die Kriseninterventionsräume. Der KIR ist ein Raum mit spärlicher Möblierung, vor allem einem Bett. Im Türrahmen befindet sich eine Gittertür mit Metallstäben, die stets geschlossen bleibt. Eine zusätzliche Tür verschließt den Raum auch optisch. Viele Gespräche werden durch diese Gittertür geführt. So beschwert sich eine Patientin sehr heftig bei der Filmemacherin, dass sie trotz der enormen Hitze nur einen Becher Wasser pro Stunde erhalte. Die anderen würden aber auch 5 Liter trinken bei dieser Hitze.
Als Zuschauer ist man zunächst empört; kurze Zeit später erklärt einer der Pfleger, dass die Patientinnen mit Hilfe des Wassers die verordneten Medikamente ausschwemmen, so dass der erforderliche Spiegel nicht entsteht. Der Film bleibt ganz dicht dran an diesen Fragestellungen und Konfrontationen: Wer macht die Regeln, und wer muss sie umsetzen? Die Krankenschwestern berichten ganz offen, dass es selbst ihnen manchmal zu kompliziert wird: Wer hat wann welche Lockerung? Wer darf wann essen und trinken und rauchen? Manchmal komme man aus dem Wochenende in den Dienst, und plötzlich sei das Regelwerk verändert. Der Alltag scheint aus einem unablässigen Prozess des Aushandelns zu bestehen; es müssen fremde Entscheidungen erläutert und umgesetzt werden.
Die Frauen stehen an der Gittertür und weinen, wenn der Besuch wieder gegangen ist. Sie sitzen in ihren Stunden der Lockerung mit den Pflegerinnen im Hof, rauchen, spielen Schach und unterhalten sich. Sie sind wütend, sie informieren sich bei ihren Anwälten, sie kämpfen um ihre Entlassung. So schafft es eine der Frauen nach 11jährigem Aufenthalt aus dem 63er-Bereich in eine Einrichtung verlegt zu werden, wo sie im Rahmen des § 64 StGB eine Therapie machen kann, und nach zwei Jahren endlich ein konkretes Entlassungsziel vor Augen haben wird.
Der Titel „Andere Welt“ führt ein wenig in die Irre. Wir lernen natürlich nicht den ganzen Bereich der forensischen Psychiatrie kennen. Es ist ein Ausschnitt, aber ein hochgradig sensibler, auf den Christa Pfafferot ihre hochauflösende Lupe richtet. Die Dokumentation dokumentiert und fällt kein Urteil. Niemand wird manipuliert, man geht scheinbar unwissend und unvorbelastet in diese Szenenim Innersten der Finsternis. Vier Jahre erzählt eine junge Frau, sei sie schon in der Forensik.
Ihr schwerstes Delikt sei gewesen, dass sie in ihrem Wohnheim eine Mitpatientin, die oft geschrien habe, „vermöbelt“ habe. Ihre 12jährige Tochter hat sie vor 6 Jahren zuletzt gesehen. Eine andere, sehr große und stattliche Zwanzigjährige leidet unter einer Borderline-Störung. Der Film endet mit ihrem Wunsch, die eingetragene Bedarfsmedikation zu erhalten. Ihr wird angeboten, sich freiwillig fixieren zu lassen. Ja, meint sie schließlich, sie ist einverstanden. „Wir machen es auch nicht so fest“ meint die Krankenschwester, die sich vor 13 Jahren nichtsahnend aus der Chirurgie hat versetzen lassen. Nein, nicht in eine andere Welt, aber auf einen anderen Planeten.
Auch das Magazin der Süddeutschen Zeitung hat mit der Metapher der anderen Welt herumgespielt. Die Regale der Patienten, fotografiert von der Regisseurin, sind als „Bretter, die die Welt bedeuten“ abgebildet und kommentiert. Der schöne Artikel ist zu finden unter http://sz-magazin.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/37505.
Ilse Eichenbrenner
Letzte Aktualisierung: 12.06.2024