Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie
Dachverband Gemeindepsychiatrie
Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen
Psychiatrie Verlag

Blender

„Blender“ ist der Name eines Bergs im Allgäu. Es ist aber auch der Name einer Einrichtung für psychisch kranke Menschen, die der Vater der Filmemacherin Susann Reck Anfang der siebziger Jahre aufgebaut hat. Susann Reck ist hier aufgewachsen. Inzwischen wird das Heim, das aus drei Häusern am Hang besteht, von der Familie betrieben. Für ihren gleichnamigen Dokumentarfilm „Blender“ ist sie ein Jahr lang mit einer Kamera zurückgekehrt. Sie lässt sich Zeit und widmet sich geduldig sechs Bewohnern, die sie einen Sommer und einen schneereichen Winter lang begleitet.

Die kleinen Szenen zeigen den Alltag, der wie in jeder Psycho-Institution durch die Mahlzeiten, die Medikamentenvergabe und das Zigarettenschnorren strukturiert wird. Die Regisseurin kommentiert aus dem Off, und ihre Erinnerung an die Perspektive des jungen Mädchens macht „Blender“ zu einem einzigartigen Dokument. Das Ritual der Medikamenteneinnahme veränderte damals die Stimmung schlagartig; allzu gerne hätte die kleine Susann auch ein paar Pillen geschluckt. Auch heute noch ist das Schlucken unter argwöhnischer Beobachtung ein zentraler Moment. Wir lernen Julius kennen, den seine Biografie nach Ungarn und wieder nach Deutschland trieb und der stolz seinen muskulösen Körper und seinen Schaffensdrang demonstriert. Wir treffen den Seemann Friedlieb, immer mit Kopfhörern, allein im Wald, der im Kampf gegen seine Imperative den Kopf in die Regentonne tunkt oder sich nur in Unterhose in den Schnee legt.

Dann gibt es Herrn Kraus, den viele für einen Mitarbeiter halten, und der es liebt, die anderen Bewohner zu gängeln; und die stille Frau Beck, die schöne Kleider liebt und sich so sehr in ihr Zimmer zurückzieht, dass sie schließlich in ein Zweibett-Zimmer wechseln muss. Der jüngste von ihnen, Lars Oliver hat eine Drogenkarriere und Aufenthalte in der Forensik hinter sich. Er träumt von einer eigenen Wohnung und einer Tätigkeit als Organist. Und zuletzt der sich stets ausgegrenzt fühlende Gerd Stuhler, dessen schönste Zeit im Leben ein Aufenthalt in der Psychiatrie Kaufbeurens gewesen ist.

Der Film gibt einen tiefen und doch behutsamen Einblick in das Leben in einer vollversorgenden Einrichtung. In der ersten halben Stunde denke ich: Müssen die hier sein? Könnten die nicht „draußen“ leben? Bei allen Freiheiten und Bequemlichkeiten ist es doch ein behütetes, rundum reguliertes Leben. Doch der Film ist noch nicht zu Ende und man ließ sich vielleicht ein wenig blenden, von der einfühlsamen Einführung. Julius verschwindet und versackt in Ungarn und ob er sich zu Tode getrunken hat, das erfährt man nicht. Herr Krause hat vierzig Jahre in der Forensik hinter sich und weil er einen Bewohner angreift wird seine Bewährung widerrufen und er muss zurück nach Wiesloch.

Auch der kluge Lars Oliver war nur auf Bewährung außerhalb der Forensik, und nach einem nächtlichen, destruktiven Ausflug zur örtlichen Apotheke wandert er wieder ein. Der Umzug von Frau Beck in ihr neues Zweierzimmer ist mühsam, und man erhält eine Ahnung vom Tagwerk der Mitarbeiterinnen. Herr Stuhler hat sich im Rahmen der Aktion endlich ein Einzelzimmer erobert und legt die erste Single auf – der Plattenspieler ist 45 Jahre alt. Friedlieb wird immer depressiver, möglicherweise hat er Krebs und im Abspann erfahren wir, dass er 2010 gestorben ist.

Es sind viele Geschichten, Tragödien, reißerische Berichte und Flunkereien, die das „Mädchen vom Irrenhügel“ im Laufe ihrer Kindheit und Jugend in sich aufgesogen hat. Man merkt: Sie hat gestaunt, und nicht gewertet. Mit welchen Maßstäben auch? Es war ihr alles lieber als Langeweile und bürgerlicher Anstand. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass es ihr heute, als erwachsene Frau so gut gelingt, jede „Coping-Strategie“ zu respektieren, ohne die Störung inklusive Elend und Gefahr zu verharmlosen. Vermutlich erinnert nicht nur mich vieles an den wunderbaren Roman von Joachim Meyerhoff über seine Kindheit in der Schleswiger Anstalt. Doch Susann Reck geht noch einen Schritt weiter: Sie kehrt zurück, und schaut noch einmal in einen heißen Sommer und den zugeschneiten Winter, mit einem erwachsenen, aber immer noch unschuldigen Blick. Sie ist kein psychiatrischer Profi geworden, sondern eine weitgereiste Künstlerin.

In der letzten Szene sitzt Lars Oliver im Gottesdienst an der Orgel, und Friedlieb wälzt sich im Schnee. Diese Szene, vielleicht der ganze Film ist eine Hommage an all die Menschen, die sehr früh auf eine andere, enge Spur geschickt wurden. Ob sie 2015 ganz andere Wege gehen würden, gehen könnten?

Das gilt es nach der Vorführung des (hochdeutsch untertitelten) Films zu diskutieren, vorzugsweise im Quadrolog. Dieser autobiographisch gefärbte Dokumentarfilm scheint mir in besonderer Weise geeignet für die Öffentlichkeitsarbeit z.B. im Rahmen der „Woche der seelischen Gesundheit“ und den Einsatz in der Aus- und Fortbildung.

Ilse Eichenbrenner

Letzte Aktualisierung: 12.06.2024