Es ist der schiere Zufall, der vierzehn Tage nach „Nicht alles schlucken“ die Antithese mit dem Dokumentarfilm „Das dunkle Gen“ in die Kinos bringt. Ein Mann wird exploriert. Haben Sie schon einmal versucht, sich das Leben zu nehmen? Ja. Der Mann heißt Frank Schauder und ist Neurologe. Er steht vor dem Sankt-Josephs-Krankenhaus in Berlin-Weißensee und berichtet von seiner schweren Depression, die ihm Jahre seines Lebens geraubt hat. Der sympathische Mann möchte wissen, ob die Gene sein Schicksal vorprogrammiert haben. In seiner Familie gibt es zahlreiche Opfer.
Wird es auch seinen jetzt 16jährigen Sohn Leonard treffen? Schauder hat sich intensiv mit Biochemie und Molekularbiologie beschäftigt und beschließt, seinen Speichel zu einer Analyse in ein Genlabor in den USA zu schicken. Er hat lange überlegt und mit Freunden diskutiert: Er will es wissen. Das Kamerateam begleitet ihn nach München zu Professor Holsboer, der wiederholt, was er auch bei „Hart aber fair“ nach dem Germanwings-Unglück gesagt hat: „Depressionen sind organische Krankheiten des Gehirns.“ Weiter geht es in Laboratorien nach Bern und zu dem Super-Computer „Mare Nostrum“ nach Barcelona, der eine ehemalige Kathedrale ganz und gar ausfüllt. Er fährt nach Harvard zum Gründer des Personal Genome Projekts und bedrängt ihn: „Lebe ich, oder werde ich gelebt?“
Sogar ein alternatives gentechnologisches Gemeinschaftslabor sucht er auf, wo an einem Kodex für die Bio-Hacker-Szene getüftelt wird. Er landet in einer Diskussion von amerikanischen Gen-Nerds, die fast alle wie Schauder ihre Gene eingeschickt haben und gemeinsam überlegen, welche Motive wohl dahinter stecken, dass die Firma 23andMe für die lächerliche Summe von 100 $ eine komplette Genanalyse erstellt. Geht es um das Sammeln von Daten, die Suche nach dem Durchschnitt? Was, wenn Krankenkassen Kenntnis der individuellen Risiken erhalten?
Es gibt Ausflüge zu einer Komponistin und einem Bildhauer, die sich von der Struktur der DNA künstlerisch inspirieren lassen. Schauder rezipiert und diskutiert mit glänzenden Augen, doch für das Thema sind diese Fußnoten verzichtbar. Letzten Endes ist das Ergebnis seines Gentests wenig signifikant. Doch Schauder hat über die Recherche zu seinem Sohn und zum Leben zurückgefunden. Holsboer meint nach einem Blick in Schauders Gehirn, die Depression sei ohne Narbenbildung verheilt. Aha.
„Der dunkle Code“ ist nicht düster, trotz seines Titels. Vor allem die emotionale Ausstrahlung des suchenden Wissenschaftlers hat eine ungeheure Sogwirkung. Fasziniert verfolgt man seine Reise in das Innere unserer Zellen in Form von phantastischen Animationen. Ein wunderbarer Film zum Thema.
Ilse Eichenbrenner
Letzte Aktualisierung: 12.06.2024