Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie
Dachverband Gemeindepsychiatrie
Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen
Psychiatrie Verlag

Inklusiv seit 50 Jahren – Die Freiburger Hilfsgemeinschaft

Und noch einmal: 1970 war dieses eine, magische Jahr der deutschen Sozialpsychiatrie. Nicht nur die DGSP wurde gegründet, sondern auch die Freiburger Hilfsgemeinschaft gibt es seit genau 50 Jahren. Beide Jubiläen waren jeweils  Anlass für einen Film. „Irre“ porträtiert die Crew und vor allem die Nutzer der verschiedenen Projekte der Freiburger Hilfsgemeinschaft, von Insidern natürlich ganz lässig als „FHG“ abgekürzt.

Es geht los mit einem Knaller. Ein etwas schrill gekleideter Mann bringt die Lebensmittel vorbei,  die er „gerettet“ hat. Er nennt sich selbst den „Käpt’n der Gehandicappten“ und verabschiedet sich schwungvoll mit weiteren Parolen. Er verlässt das Büro des jungen Mitarbeiters, der nun berichtet, dass er ursprünglich bei der Post gearbeitet habe. Er wurde krank, landete in der Psychiatrie und hat bei der FHG einen Arbeitsplatz und eine Heimat gefunden. Wir landen mit der Kamera immer wieder in der Küche, in der – wie vermutlich in jeder Kontakt-  und Beratungsstelle, alle Fäden zusammen laufen. Es wird diskutiert, eingekauft, das Essen wird zubereitet und die Tische in dem schönen hellen Raum werden für das gemeinsame Mittagessen eingedeckt.

Im Laufe der eineinhalb Stunden lernt man verschiedene Räume und Protagonisten kennen, wobei auch deren Namen eingeblendet werden. Vielleicht zuckt man deshalb kurz zusammen: Hat sich tatsächlich jeder von ihnen geoutet? Die Persönlichkeitsrechte werden sehr ernst genommen, das wird im Laufe des weiteren Films deutlich. Ein junger Besucher überlegt zunächst, ob er wirklich erzählen solle, was er in der Psychose erlebt hat. Gemeinsam wird  beschlossen: Er erzählt, schaut sich die Aufnahmen später an, und entscheidet dann. Seine eindringliche Schilderung des ungeheuerlichen Phänomens, das ihn beinahe das Leben gekostet hätte, gehört zu den Höhepunkten von „Irre“.

Immer wieder widmet sich die Kamera der sympathischen Sabine Hering, die schon seit einigen Jahren in ihrer eigenen Wohnung lebt und ambulant betreut wird. Sie erzählt vom Poetry Slam, spielt Gitarre und singt dazu einen eigenen Song. Später sehen wir sie auf ihrem Balkon, im Gespräch mit ihrem Sozialarbeiter, der sie schon lange kennt. Heute muss die Post gemeinsam durchgesehen werden. Sie jauchzt, als sie den Briefkasten leer vorfindet. Beinahe bestürzende Zeichnungen legt eine ältere Klientin dem Betrachter vor. Sie hat die Gewalt festgehalten, denen sie in ihren Beziehungen ausgesetzt war. Am Ende des Films ist ihr ein Tisch mit Blumen und Kerzen gewidmet, denn sie lebt nicht mehr.  

Wer ist nun eigentlich Profi, wer Klientin oder Klient? Das wird zunächst nicht ganz klar, und das ist auch gut so. Zwei der klugen und sozial begabten jungen Männer zeigen am Ende ihr Zertifikat: Sie haben ihre Ex-In-Ausbildung abgeschlossen und arbeiten von nun an als Genesungsbegleiter bei der FHG.

Entstanden ist der Verein über das Engagement von Laien. Inge Köhler ist eine von ihnen, und tatsächlich bereits seit 1970 dabei. Sie berichtet, dass man ursprünglich ganz ohne Kenntnisse über psychische Krankheiten in die Begegnung gehen sollte. Das sei ihr manchmal schwer gefallen. Es sei früher viel schlimmer gewesen. Jetzt merke man doch oft gar nichts mehr viel von den psychischen Erkrankungen.

Mag sein, dass in den ersten Jahrzehnten der FHG von „Irre“ mehr zu spüren war. Trotzdem empfinde ich es als eine der ungeheuren Stärken dieses Films, dass er sowohl Empowerment und Recovery eindrucksvoll illustriert, aber gleichwohl die Tragik und lebensgefährliche Verstörung vor allem in der Psychose deutlich macht. Immer wieder wird auf die zuständige psychiatrische Klinik Emmendingen, auf Fixierungen und Medikation geschimpft. Dann wieder bricht einem fast das Herz wenn man hört, wie ein Ereignis oder eine unerklärlich hereinbrechende Erkrankung einen Lebensweg zerschlagen hat. Sie helfen sich gegenseitig, und sie haben freundliche, klare und kompetente Menschen gefunden, die sie unterstützen.

„Irre“ würdigt nicht nur die 50jährige Arbeit der Freiburger Hilfsgemeinschaft. „Irre“ ist gleichzeitig ein wunderbares Porträt dessen, was Gemeindepsychiatrie 2020 leisten kann. Oder ist es die häufig beklagte Psychiatrie-Gemeinde, die wir hier kennen lernen, - ein schönes Ghetto? Die FGH unterhält nicht nur den Club 55 und einen Mittagstisch, sondern auch Wohnbetreuung und einen Zuverdienst. Diese filmische Langzeitbeobachtung beantwortet viele Fragen, und wirft neue auf. Wie kann es weitergehen?

Ich sehe ab und zu Dokumentarfilme zu diesem Themenbereich. Immer gibt es ein Element der Strukturierung, um dem Zuschauer dabei zu helfen, den Fluss der Sequenzen zu gliedern. Häufig wird Musik eingesetzt, manchmal sind es Bilder aus der Natur. Reinhild Dettmer-Fink, die Regisseurin von „Irre“, hat sich für kleine, ganz beiläufige Balkonszenen entschieden. Mal sind es zwei Frauen, mal zwei Männer, mal ein gemischtes Doppel, das man beim Smalltalk und beim Rauchen beobachten kann. Sind es nicht genau diese Minuten, die den Alltag in der psychosozialen Arbeit schimmern und glitzern lassen?   

„Irre“ wurde bereits in Kinos der Region mehrfach gezeigt. Ich wünsche dem Film viele Projektionen und ein aufmerksames Publikum, während und vor allem nach Corona. 

Letzte Aktualisierung: 12.06.2024