Jana Kalms, die Filmemacherin und Piet Stolz, der Psychiater haben für ihre Dokumentarfilme „Raum 4070“ und „Psychosen verstehen“ in der Sozialen Psychiatrie höchste Anerkennung erhalten. „Raum 4070“ ist ein fulminanter Film, der auch ein drittes, viertes Mal und immer wieder neu fasziniert und den Atem raubt. Mit großer Spannung wurde deshalb der neue Film der beiden Protagonisten des Potsdamer Psychoseseminars erwartet. Nun ist es soweit. Am 28. Mai wird „Nicht alles schlucken“ in die Kinos kommen, gleich im Anschluss an seine Präsentation auf dem Dokfest in München.
Menschen sitzen in einem Stuhlkreis: Männer, Frauen, ältere, jüngere, alle sind erwachsen. Wo befinden sie sich? Schwer zu sagen. Was verbindet sie? Wir werden es erfahren.
Der Zuschauer bleibt ohne Vorinformationen, grade mal der Titel könnte eine kleine Vorahnung vermitteln: „Nicht alles schlucken“. Geht es um gesunde Ernährung? Oder eher darum, dass man Ärger und Wut nicht immer schlucken soll?
Nacheinander sprechen diese Menschen. Im Gegenteil zu mir scheinen sie zu wissen, um was es geht. Manche sprechen von einer Psychose die sie hatten, und den Medikamenten, die sie in der Klinik erhalten haben. Sie scheinen diese Medikamente weiter nehmen zu müssen, um nicht rückfällig zu werden. Manche finden das gut, andere schlecht. Es sprechen auch Angehörige. Ein Vater, der in der Psychiatrie als Krankenpfleger arbeitet berichtet, dass sein Sohn sich für einen sehr schwierigen Weg ohne Medikamente entschieden habe, mit Erfolg. Einige jüngere Männer meinen, sie könnten wohl nie ohne diese Medikamente leben.
Man erfährt nicht genau, weshalb das so schlimm ist, aber man ahnt es. Es ist von Nebenwirkungen die Rede, aber sie werden nicht genau benannt. Eine Frau berichtet von ihrer Psychose, sie erwähnt, dass sie Juristin ist. Man habe sie einfach gepackt und in die Klinik gebracht und fixiert. Sie wird jetzt noch wütend, wenn sie daran denkt. Neben ihr sitzt ihre Tochter. Sie hatte gerade entbunden, fühlte sich und ihr Neugeborenes von der psychotischen Mutter bedroht. Gefühle, Schilderungen, Einschätzungen bleiben unkommentiert nebeneinander stehen, im Gespräch und im Kopf des Zuschauers. Es ist eine große Ruhe im Raum, höchste Konzentration, und gleichzeitig herrscht große unverbindliche Freundlichkeit.
Mütter berichten von ihren Söhnen. Eine Ärztin erzählt, wie erleichtert sie gewesen sei, als ihrem psychotischen Sohn ein Medikament verordnet wurde. Aha, eine Krankheit, die man behandeln kann. Eine andere Mutter berichtet, dass bei ihrem Sohn eine Schizophrenie diagnostiziert worden sei und er entfernt in einer Einrichtung lebe. Nun müsse sie entscheiden, ob der Sohn dort bleibe, oder ob sie ihn herausnehme, damit er eine Psychotherapie machen könne. Beim Sozialpsychiatrischen Dienst habe man sie deshalb zum Gespräch geladen. Der Arzt habe ihr Vorwürfe gemacht: Bei dieser Erkrankung mache eine Psychotherapie gar keinen Sinn, sondern schade nur.
Es folgen viele weitere, ähnliche Statements. Das Prinzip ist klar geworden: Menschen mit Psychoseerfahrung, Angehörige und Professionelle sind zusammengekommen und berichten über ihre Erfahrungen mit Psychose und medikamentöser Behandlung. Manche von ihnen sind in einer Doppelrolle. Ab und zu ist der Stuhlkreis leer, und nur einer der Protagonisten setzt sich und berichtet. Dann wieder sind alle Plätze besetzt. Die Außenwelt bleibt außen vor. Der Raum, die Türen, alles ist einheitlich grau gestrichen, nichts lenkt ab. Wie lange mögen diese Menschen da gesessen haben? Wer hat sie ausgewählt?
Vor der fast monochromen Folie der grauen, fensterlosen Wände leuchten die Gesichter umso kräftiger. Wie schön, dass ab und zu ein rotes Kleidungsstück in den Fokus gerät, zum Beispiel bei einer sehr jungen, zunächst magersüchtigen, dann psychosekranken jungen Frau. Noch lange nach der Vorstellung erinnert man sich an einzelne Blusen und Jacken, an Schmuck, an ein bestimmtes Tuch, das von seiner Trägerin sorgfältig drapiert wird. Ein ungeheures Bemühen ist im Raum. Ein Bemühen um Ästhetik, um Stil, eine Inszenierung. Die Kamera nähert sich den Gesichtern haarscharf und doch respektvoll, ohne die Grenze der Intimität zu verletzen. Sie schaut sehr ruhig, nicht immer nur auf die sprechende Person, sondern beobachtet häufig zunächst die Zuhörenden.
Immer wieder gibt es Pausen - peinliche Pausen, meditative Pausen? Es mag von der Geduld und der Erfahrung der Zuschauer abhängen, wie diese stillen Momente gewertet werden. Ich war mir unsicher, ob ich in das eher unangenehme „therapeutische Schweigen“ einer Gruppe geraten bin, oder ob es sich um ein weiteres Stilmittel handelt und längst klar ist, wann wer wieder das Wort ergreifen wird.
So schwebt „Nicht alles schlucken“ in einem diffusen Raum: Zwischen Inszenierung und Spontaneität, zwischen Stilisierung und persönlichem Ausdruck. Die Absicht ist nicht zu übersehen: Der Zuschauer soll sich ganz konzentrieren auf Mimik, Gestik und Sprache der Menschen im Stuhlkreis. Zuhören! Auch die Aussagen mäandern, wechseln, bleiben diffus, glücklicherweise. Denn es gibt keine einfache Antwort auf die Frage nach der medikamentösen (Dauer-)Behandlung von Psychosen.
An wenigen Stellen beziehen sich die Aussagen aufeinander, und das Gespräch wird dynamisch. Diese Dialoge funkeln und lassen ahnen, wie existenziell das Thema – zum Beispiel im Rahmen einer Vorführung des Films diskutiert werden kann. Der Psychiatrie-Krankenpfleger-Vater berichtet, dass eine Frau einmal angesichts der medikamentösen Dauerbehandlung gesagt habe: „Wo ist es hin, mein schönes, schönes Leben“. Und später wird genau dieser Wunsch nach dem schönen Leben aufgegriffen. So einfach ist es eben nicht. Nicht nur mit Psychose, nicht nur mit Neuroleptika habe man manchmal kein schönes Leben - denn um jedes Leben muss gerungen werden. Eine Ahnung von anderen Krankheiten, anderen Schicksalen löst die Einengung im Raum ein wenig auf.
Ganz so unvorbelastet, wie es den Anschein hat, bin ich als Rezensentin nicht. Ich kenne einige der Protagonisten, kenne die Filmemacher samt ihrer Intention und die Debatte. „Nicht alles schlucken“ greift alle Aspekte auf: Alle Rollen, alle Argumente und auch alle aktuellen Leitgedanken wie Trialog, Recovery und Empowerment. Achtung: Dies ist kein Film für Anfänger. Für einen beschaulichen Kinoabend ist er nicht geeignet. Wer auf welchem Weg auch immer auf diese Rezension im Psychiatrienetz gestoßen ist, der gehört sicher zur Zielgruppe. Gehen Sie zu zweit, gehen Sie in der Gruppe und nehmen Sie sich die Zeit für ein Gespräch danach. Lassen Sie die Bilder und die Gesichter und die Argumente in sich wirken, wie ein Psychopharmakon.
Ilse Eichenbrenner
Letzte Aktualisierung: 12.06.2024