Der Roman „Simple“ von Marie-Aude Murai muss in Frankreich ein großer Erfolg gewesen sein. Er wurde verfilmt. Nun gibt es also auch eine deutsche Version, mit äußerst populären Darstellern. Ich hätte ja darauf getippt, dass Frederick Lau den Behinderten geben muss. Aber nein, es ist „Der Vorleser“ David Kross, der hier einmal zeigen darf, was er auf der Platte hat.
Wir befinden uns irgendwo an der Küste, hinter dem Deich, wo Ben mit seinem geistig behinderten Bruder Barnabas, genannt Simpel und seiner krebskranken Mutter lebt. Simpel haut häufig ab, und Ben muss ihn suchen. Er findet ihn und sein Stofftier mit dem Namen HaseHase zu Beginn des Films irgendwo im Watt, gerade noch rechtzeitig vor der Flut. Am Abend ist die Mutter tot. Wenige Tage später erfahren die beiden, dass Simpel in ein Heim muss. Eigentlich wollte Ben die Betreuung seines Bruders übernehmen, aber das hat der Vater abgelehnt.
Ein freundlicher Mann von der Diakonie kommt, und möchte Simpel in sein schönes Heim mitnehmen. Sie sitzen schon gemeinsam im Polizeibus als Ben ausrastet, alle rauswirft und allein mit Simpel weiterfährt. Er will den Vater in Hamburg finden, er will ihn umstimmen, er will verhindern, dass Simpel in ein Heim kommt. Der Roadmovie beginnt. Sie schlagen sich irgendwie durch. Sie treffen auf zwei Sanitäter, die Medizinstudentin Aria und ihren Kumpel Enzo, und lassen sich von ihnen in die Großstadt mitnehmen. Ben spürt den Vater in einem Autohaus auf, wo er als Verkäufer arbeitet. Simpel hat er bei einer freundlichen Dame geparkt, die ihn in ihren Puff mitnimmt. Später kommt es zu einem wüsten Handgemenge, Ben und Simpel müssen in die Notaufnahme, wo sie auf ihre tapferen Sanitäter treffen.
Aria lässt die beiden in ihrer studentischen und originell eingerichteten WG übernachten, wo Simpel am nächsten Morgen –animiert von einer Kochsendung - die Küche abfackelt. Ben ist zunehmend genervt von seinem geliebten Bruder, er schimpft und hadert und weiß nicht mehr weiter. Der Vater, der gerade eine Geburtstagsparty feiert wird heimgesucht und schämt sich ganz offensichtlich für seinen missratenen Sohn. Schließlich lernt Simpel eine Gruppe von Behinderten kennen, die in einer Heimeinrichtung leben.
Er freundet sich mit einem Mädchen mit Down-Syndrom an, und ein Platz in genau diesem Heim scheint wunderbarer Weise gerade frei zu sein. Alles wird gut. „Simpel“ ist ein kurzweiliger, toll ausgestatteter Film ohne künstlerische Ambitionen mit aktuellen Bezügen, rasanter Musik und bewährten Schauspielern. Hin- und Hergerissen bin ich von der Verkörperung des behinderten Simpel durch David Kross; manchmal erinnert seine Performance an den jungen Leonardo DiCaprio (in: Gilbert Grape), dann wieder agiert er nur blöde. Ein Blick auf die französische Version auf YouTube zeigt allerdings, wie gut er vergleichsweise seine Sache gemacht hat.
Das Drehbuch verrät nicht, ob Simpel bisher bereits gefördert wurde, ob er eine Schule besucht hat, oder nur als Maskottchen der Familie fungierte. Die geschwisterliche Ambivalenz zwischen Liebe und Überforderung präsentiert Fredrick Lau in beeindruckender Weise; der behinderte Bruder ist nicht nur niedlich, sondern ungeheuer anstrengend und manchmal sogar gefährlich. So wird die Geschwister-Thematik gut bedient, während Simpel eine sonderpädagogische Leerstelle bleibt.
Immerhin: Es gibt kleine, absolut entzückende Szenen in diesem Spielfilm. Als HaseHase ein Ohr verloren hat inszeniert das Sanitäter-Pärchen vor Publikum eine OP, kunstgerecht, mit Anästhesie, Tupfer und sterilisiertem Skalpell.
Ilse Eichenbrenner
Letzte Aktualisierung: 12.06.2024