Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie
Dachverband Gemeindepsychiatrie
Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen
Psychiatrie Verlag

12 Tage

Noch läuft „Eleanor & Colette“ in einigen Kinos, da startet am 14. Juni bereits eine französische Produktion, die ebenfalls die Zwangsunterbringung in der Psychiatrie thematisiert. „12 Tage“ heißt der Dokumentarfilm des renommierten französischen Filmemachers Raymond Depardon. Denn innerhalb von 12 Tagen müssen in Frankreich seit einem Gesetz, das 2013 erlassen wurde, alle Patienten einem Richter vorgestellt werden, wenn sie gegen ihren Willen in die Klinik gekommen sind. Diesen Sachverhalt erfährt der Zuschauer mit einem eingeblendeten Text, dann ist er auch schon ohne weitere Präliminarien dem eingeengten Geschehen ausgeliefert. Ort der Handlung ist eine psychiatrische Klinik in Lyon, das Centre Hospitalier Le Vinatier.

Der unerhört karge Film konzentriert sich ganz und gar auf die Situation dieser richterlichen Anhörungen. Der erste Patient, der von einer jungen Richterin angehört wird, leidet sichtlich unter den Nebenwirkungen seiner neuroleptischen Medikation. Trotzdem versucht er, sich und seine Situation zu erklären. Er hat jemandem auf den Kopf geschlagen, warum? Die Richterin signalisiert zwar Aufmerksamkeit, gleichzeitig ist ihre Ungeduld, ja ihre Entscheidung bereits zu spüren. Sie argumentiert, doch der Patient versteht sie nicht. Die Kommunikation scheitert. Sie sei ja keine Ärztin, betont sie, wie auch später ihre Kollegen. Ein Psychiater ist ebenfalls anwesend. Ist er der Behandler? Erst im Presseheft ist zu erfahren, dass der tatsächlich behandelnde Psychiater grundsätzlich nicht dabei sein darf. Manchmal steht auch noch ein Krankenpfleger im Hintergrund; man ahnt, dass er gegebenenfalls einzugreifen hat. Stets sitzt ein Anwalt oder eine Anwältin neben dem Patienten – beinahe wortlos.

Es sind ganz unterschiedliche Menschen, unterschiedliche Geschichten und Störungen, die im Laufe der 87 Minuten gezeigt werden. Eine Frau schildert ihre berufliche Überforderung, ihre seelischen Nöte ungeheuer lebendig; sie ist so traurig, dass sie nun das Festival der Stadt Lyon nicht erleben kann. Eine andere Frau möchte unbedingt nachhause, in ihre Wohnung, um sich nach 37 Jahren des Leidens endlich das Leben zu nehmen. Die Aussicht auf einen Platz in einer therapeutischen Wohngruppe – vermittelt durch die Sozialarbeiterin, befürwortet von der Anwältin - gibt zumindest dieser Anhörung einen Hauch von Hoffnung. Die dritte Patientin berichtet von Vergewaltigungen und ihren Selbstverletzungen.

Einige der männlichen Patienten haben schwere Delikte begangen und sind schon sehr lange geschlossen untergebracht. Ein Mann aus Angola ist seit 8 Jahren inhaftiert. Der Richter sagt, er müsse nun erst einmal nachdenken, bevor er eine Entscheidung treffe. Ein vermutlich permanent psychotischer Patient klagt darüber, dass er den elektrischen Stuhl höre. Ein anderer ist aus dem Gefängnis vor drei Jahren hierher verlegt worden. Er kündigt an, eine Partei zu gründen, und dann die Psychiatrie hinweg zu fegen. Zwischen den Anhörungen sind leere Stationsflure zu sehen, ein Bett mit Fixiergurten, ein Patient, der in dem eingezäunten Außenbereich unentwegt im Kreis läuft. Was will uns der Film sagen? Es gibt keinen Kommentar. Aber er spricht für sich selbst, könnte man denken: Ein Plädoyer gegen den Freiheitsentzug, zumindest gegen diese Art von viel zu knappen Verhandlungen nach Schema F, ohne wirkliches Interesse für die Menschen, ihre Störung, ihre ganz persönliche Leidensgeschichte. Man ahnt, dass es in Frankreich keine Krankenhäuser des Maßregelvollzugs in unserem Sinne gibt, vielleicht gar keine forensische Psychiatrie; die Recherche im Internet bestätigt diese Vermutung.

Ein Themenstrang, der weiter verfolgt werden könnte: Psychiatrie ohne Forensik. Ebenfalls dem Presseheft entnehme ich die Information, dass die Patienten auch aus anderen Kliniken, Spezialeinrichtungen für besonders schwierige Patienten, zu ihrer Anhörung nach Lyon gebracht werden. Ohne diese Informationen ist es schwierig. Man kennt die Floskel: Die Bilder sprechen für sich selbst. Doch manchmal braucht es einen Übersetzer. Auf Arte kommentiert der berühmte Regisseur: Er schwärmt von diesem wunderbaren Moment, von der Viertelstunde der Anhörung, in der der Patient zu Wort kommt.

Man habe von 70 Anhörungen schließlich 10 ausgesucht. Alles Gewaltsame habe man heraus geschnitten, weil man vermeiden wolle, dass Gewalt und Psychiatrie assoziiert werden. Mit einer Spezialkamera habe er diese wunderbaren Nahaufnahmen gemacht. In der Tat sind die Bilder exquisit, und selten hat man so ausdauernd in die Gesichter mehr oder weniger gestörter Menschen blicken dürfen. Die Kamera geht ganz dicht ran, zu dicht vielleicht. Waren die Patienten aufgeklärt, als sie ihre Zustimmung zu den Filmaufnahmen gaben? Ihren Aufenthalt dürfen sie nicht bestimmen; wenn ich die englischen Untertitel richtig verstanden habe, so wird keine der Unterbringungen aufgehoben. Der Film wird mit deutschen Untertiteln in die Kinos kommen.

Für welches Publikum? Als Grundlage für Diskussionen scheint er mir sehr geeignet – sofern man sprechen kann, mit einem Kloß im Hals.

Ilse Eichenbrenner

Letzte Aktualisierung: 12.06.2024