So stellt sich der gute Mensch eine durchgeknallte junge Frau vor: bildhübsch, kindlich-knallbunt aber freizügig angezogen fabriziert sie kleine makabere Kunstwerke, häkelt den Bäumen ein Mäntelchen und erhängt Stofftiere in den Ästen. Um es ganz offen zu sagen: „Barfuss auf Nacktschnecken“ ging mir schon auf den Keks, bevor ich das Kino überhaupt betreten hatte. Ich war sozusagen negativ eingestimmt durch die haptische Imagination des Filmtitels.
Ich hörte das Schmatzen, und es ekelte mich. Kaum saß ich im Sessel, da hüpft auch schon die Schauspielerin Ludivine Sagnier mit pinkfarbenen Kinderkleidern durchs Gras. Ihre Mutter, soeben noch eine agile Angehörige, bekommt am Steuer ihres Autos ganz unvermittelt einen Herzinfarkt. Es dauert eine Weile, bis Lily kapiert, dass die Mutter nun so tot ist wie die vielen Kaninchen und Mäuse, denen sie so gerne das Fell abzieht um aus ihnen die eigenartigsten Dinge zu nähen. Was für eine Störung Lily genau haben soll wird nicht weiter ausgeführt. Sie mag ein wenig minderbegabt sein, ein wenig realitätsfern, natürlich ist sie trotzig und sexuell freizügig und egoistisch bis zum Anschlag.
Sie ist ganz das Gegenteil ihrer sehr ernsthaften und bemühten Schwester Clara, angenehm verkörpert von Diane Krüger. Diese Clara muss nun nach dem Tod der Mutter aus Paris anreisen, um sich um die lebensuntüchtige Schwester zu kümmern. Das große Landhaus, in dem die Mutter mit ihren beiden Töchtern gelebt hat steht im Mittelpunkt der Handlung; ganz in der Nähe hat sich Lily eine Hütte eingerichtet, in der sie klebt und bastelt und näht oder sich von den Jungs der Nachbarschaft erforschen lässt.
Auch den Märchenwald drum herum hat sie sich angeeignet mit Wolle und Häkelnadel. Die eine lacht, die andere nicht, die eine genießt das Leben, die andere macht sich Sorgen....das Schema ist bekannt: Es braucht die Andersartigen, um das Leben zu würzen, es braucht die Einfältigen, um sich auf die wichtigen Dinge des Lebens zu besinnen. So verwandelt sich Clara ganz allmählich und lässt sich ein auf die Spleens und spontanen Aktionen ihrer Schwester Lily. Clara verlässt ihren Arbeitsplatz und ihren Mann in Paris und folgt ihrer Schwester und ihrem Herzen. Am Ende haben beide einen kleinen Verkaufsstand an der Landstraße mit Blumen, Früchten und selbstgebasteltem Krimskrams.
Einige Details in „Barfuss auf Nacktschnecken“ sind wunderbar beobachtet, anderes ist Klischee pur. Dass im Film weder von Krankheit, Störung noch von Therapie auch nur ansatzweise die Rede ist hat mich für ihn eingenommen und macht ihn tauglich für die Inklusionsdebatte. Lily geht vermutlich nicht nur mir total auf den Wecker, und trotzdem übernimmt sie allmählich ein wenig Verantwortung für ihr Leben. So treffen sich Lily und Clara und der Zuschauer irgendwo in der Mitte dieses komplett klapsenfreien Sommerfilms. Die titelgebende Konstellation kommt übrigens nicht zustande – kein einziges Schmatzen.
Ilse Eichenbrenner
Letzte Aktualisierung: 12.06.2024