Beim Weltkongress für Psychiatrie war dieser Dokumentarfilm erstmals zu sehen. Peter Lehmann begrüßte und moderierte die Veranstaltung; neben ihm saß die junge Filmemacherin Brigitte Zürcher. Sie hat viele Jahre in der Schweizer Psychiatrie gearbeitet, und haderte wohl zunehmend mit der etablierten Psychiatrie, vor allem mit der pharmakologischen Behandlung. Ihr Film beginnt im Zeitraffer: Menschen rennen, der Verkehr rast. Diese Szenen sind zunächst unterlegt mit den Stimmen von Betroffenen, die auch immer wieder ins Bild kommen.
Das ist zunächst unangenehm und schwer auszuhalten, vermutlich aber Absicht. Zürcher will das Tempo unserer Zeit visualisieren. Reizüberflutung, Anpassungsdruck, das alles führe zu verständlichen Reaktionen. Es sind drei Experten, die dann immer wieder im raschen Wechsel zu Wort kommen: Der Arzt, Psychotherapeut und Autor Ruediger Dahlke ist durch „Die Krankheit als Weg“ zumindest den Älteren gut bekannt. „Wir trauern nicht mehr, Depression ist ungelebte Trauer. Die Gedanken an den Tod wurden an den Rand gedrängt.“ Dahlke berichtet, dass er alle Psychopharmaka selbst ausprobiert habe; am schlimmsten sei Haloperidol gewesen.
Der niederländische Psychiater Piet Westdijk lebt in der Schweiz, und versucht bei der Behandlung seiner Patienten auf Neuroleptika zu verzichten. Psychische Krankheiten sind aus seiner Sicht Konstrukte. Peter Lehmann sitzt vor einem Baum und spricht ebenfalls von Konstrukten. Der rasche Wechsel der Bilder, der verschiedenen Stimmen und Gesichter bleibt noch einige Minuten anstrengend, bis sich der Film allmählich beruhigt. Die Theorien von C. G. Jung kommen zur Sprache, und die Suche nach den Ursachen psychischer Erkrankungen mit den unterschiedlichsten Verfahren. Alles sei doch erfolglos gewesen. Reto Stör, selbst in der Psychiatrie tätig und an einer Depression erkrankt schildert seine Leidensgeschichte.
Durch die Behandlung mit Antidepressiva sei es ihm immer schlechter gegangen, schließlich musste er stationär aufgenommen werden: Dieser Schrecken, eine Station als Patient zu erleben. Illustriert wird sein Bericht mit Kamerafahrten durch leere Klinikflure. Peter Lehmann macht keinen Hehl aus seiner Verachtung für „die Psychiater, die wollen, dass die Patienten alles mitmachen“. „Es darf keine Alternative geben.“ Dabei sei es ganz klar die Lebenslage der Menschen, ihre Probleme und Konflikte, z.B. in Beziehungen, die zu Krisen führen. Eine Diagnose sei dann eine Ent-schuldigung, man werde krank geschrieben. Löse man die Probleme nicht, bleibe die Situation unverändert, dann komme nach dem Absetzen der Psychopharmaka natürlich unweigerlich der Rückfall.
Dies sind nur einige Zitate aus „Funktionieren“, die ich hoffentlich korrekt erinnere und wiedergebe. Manches wiederholt sich, z.B. die Feststellung, dass Psychopharmaka die Menschen in Zombies verwandeln. Sind psychische Krankheiten überhaupt „echte“ Krankheiten? Ist die Seele krank, oder das Gehirn? Die Pharmaindustrie verschweige Studien mit negativen Ergebnissen. Häufig sei zuerst das Medikament da (Ritalin) und erst danach finde man die passende Erkrankung (ADHS). Dies alles ist nicht neu, sondern tausendmal gehört. Brigitte Zürcher verbindet die kritischen Punkte, belegt vieles, lässt manches in der Schwebe.
Unklar bleibt natürlich, ob sie die Statements der drei Experten entschärft hat. Denn es fehlt die übliche Polemik. „Funktionieren“ ist kein wütendes Pamphlet, sondern sinniert, fragt nach, lässt immer wieder neu zu Wort kommen. Deshalb kann ich mir vorstellen, dass im Anschluss an den Film durchaus konstruktiv diskutiert werden kann. Doch ist der Film überhaupt verfügbar?. Brigitte Zürcher hat ihren ersten Film selbst finanziert. Darüber ist ihr das Geld ausgegangen. Über ein Crowdfundingportal sammelte sie, damit der Film öffentlich gezeigt werden kann.
Viele Informationen zum Film und zu der Kampagne finden Sie unter www.funktionieren.ch. Ich habe sie gefragt: Sie hat es inzwischen geschafft!
Ilse Eichenbrenner
Letzte Aktualisierung: 12.06.2024