In der Teeküche einer psychiatrischen Klinik steht ein Tisch. Hier sitzen sich zwei Frauen gegenüber: Jasmin, eine junge Frau, die ihr Kind getötet hat, und Fr. Dr. Feldt, Ärztin der Psychiatrie. Sie hat den Auftrag, ein Gutachten zur Schuldfähigkeit zu erstellen. Vier Sitzungen sind geplant. Die Psychiaterin wird verkörpert von der Schauspielerin Wiebke Puls, die sich für eine angestrengte, beinahe verbissene Umsetzung entschieden hat. Mir ihren großen Ohren und dem etwas kantigen Gesicht ähnelt sie auf verblüffende Weise Tilda Swinton. Sie betrachtet ihre Patientin aufmerksam, blättert in ihren Notizen und schreibt hin und wieder hastig etwas dazu.
Jasmin, hübsch, sanft und sensibel leidet an einer Depression. Aber war sie auch zur Tatzeit depressiv? Jasmin ist zunächst misstrauisch. Sie verweigert die Einnahme von schlafanstossenden Beruhigungsmitteln, weil sie befürchtet, dann nicht mehr „normal“ zu träumen. Die Antidepressiva – so verspricht sie Fr. Dr. Feldt – werde sie zukünftig nehmen. Nachdem das geklärt ist stellt die Gutachterin Fragen zur Lebensgeschichte. Der geliebte Vater lag nach einem Herzinfarkt tot im Ehebett neben der sechsjährigen Jasmin, die bis dahin bei den Eltern geschlafen hatte. Sie habe ihn sehr vermisst.
Als Teenager verliebte sie sich in den Rockmusiker Tom und begleitete ihn auf einer Europatournee. Doch Tom hat sie betrogen und sie kehrte zurück in ihre Heimatstadt, um die Schule abzuschließen. Es folgt eine kaufmännische Lehre und die Beziehung mit Benno, der eigentlich kein Kind wollte, und sie schon bald im Stich lässt. Franziska, die über alles geliebte Tochter wird mit einem Loch im Herzen geboren. Sie ist ein anstrengendes Kind, das viel Aufmerksamkeit und ärztliche Behandlungen benötigt.
Trotzdem erfüllt sich Jasmin einen Lebenstraum und eröffnet ein kleines Café. Nach einer großartigen Zeit scheitert sie, und muss mit Franziska bei der ungeliebten Mutter um Unterschlupf bitten. Sie hat kein Einkommen, ist nicht einmal krankenversichert, Franziska benötigt eine Herztransplantation.
Die Gutachterin hakt immer wieder nach, ermuntert und strukturiert. Sie ist keine Therapeutin, und doch entwickelt sich im Lauf der vier Sitzungen ein rudimentäres Vertrauen. Jasmin möchte wissen, ob Fr. Dr. Feldt gerne allein ist, und ob sie ein Kind hat. Die Gutachterin bleibt distanziert: „Es geht hier nicht um mich“. Jasmin ist sichtlich enttäuscht. Nun antwortet Fr. Dr. Feldt doch: Nein, sie sei nicht gerne allein, und sie sei gerade schwanger. Es sind dann die kleinen Gesten, die Jasmin helfen, sich endlich doch der Tatnacht zu nähern: Der Kaffee aus der Kaffeemaschine, die Zigarette am offenen Fenster.
Die Einengung im depressiven Tunnel, die große Erschöpfung und der endgültige Wunsch nach Ruhe für sich selbst und das Kind wird wunderbar eindringlich beschrieben von der Darstellerin Anne Schäfer in der Haut von Jasmin. Der „Mitnahmesuizid“ erscheint dem Zuschauer nicht als einziger Ausweg, aber doch als nachvollziehbare und logische Konsequenz. Dann ist der Film etwas abrupt zu Ende.
Es geht in „Jasmin“ wenig oder gar nicht um Psychiatrie oder die psychische Störung der Protagonistin. Drehbuchautor Christian Lyra, der seinen Zivildienst in der Psychiatrie absolviert hat, versucht eine individuelle Lebenslage zu schildern, eine Entwicklung mit zahlreichen sozialen und psychologischen Komponenten, die fatal ineinander greifen. Bei der Premiere im Berliner „Babylon“ stellt er sich mit Anne Schäfer und dem Regisseur Jan Fehse den Fragen der Zuschauer.
Und die guten, vielleicht all zu guten Absichten werden deutlich. Es müsse mehr Unterstützung geben, mehr menschliche Anteilnahme, dann ließe sich vielleicht die eine oder andere derartige Katastrophe vermeiden. Und es geht ihm um Verständnis, denn diese Frauen sind keine Monster, sondern verzweifelte Menschen – wie du und ich? Vielleicht wird die Dimension der Krankheit, die Eigendynamik der affektiven Störung ein wenig zu tief gehängt. Die Filmemacher betonen aber, wie intensiv die Zusammenarbeit mit einigen Psychiatern war, besonders intensiv mit Prof. Dr. Matthias Dose, Taufkirchen.
Psychiatrisch Tätige sollten sich „Jasmin“ nur mit den besten Absichten zu Gemüte führen. Sie gehören eindeutig nicht zur Zielgruppe. Wer sich Karmakars „Der Totmacher“ nach dem Feierabend zugemutet hat, und verstört war, der wird bei „Jasmin“ eher aufatmen. Man kann zwei großartige Darstellerinnen in einem eindringlichen Dialog bewundern, und gerät trotz der nüchternen Kammerspiel-Anordnung in den Sog der Geschichte. Sieben Kameras hat Jan Fehse aufgestellt, um die beiden Gesichter aus vielen Perspektiven zu zeigen. So sitzt der Zuschauer dann doch nicht starr wie im Theater, sondern ist ganz dran, beinahe im Zentrum der Exploration.
Ilse Eichenbrenner
Letzte Aktualisierung: 12.06.2024