Auf dem kleinen Filmfestival „Achtung Berlin“ war im April ein Film zu sehen, auf den ich bereits jetzt aufmerksam machen möchte. „Wie ich lernte, die Zahlen zu lieben“ ist ein Dokumentarfilm der beiden jungen Filmemacher Oliver Sechting und Max Taubert, der allerdings im Programmheft als „Spielfilm“ angekündigt ist. Es gilt also wachsam zu sein.
Oliver Sechting ist der Gefährte von Rosa von Praunheim, der den Film auch produziert hat. In der blau-weißen Küche der beiden geht es los: Oliver Sechting hat Angst vor der geplanten Reise nach New York, vor allem Angst um den jüngeren Max, der in der gefährlichen Stadt umgebracht werden könnte. Auch das eigene Leben, so ist sich der junge Mann sicher, ist in Gefahr. Von Praunheim nimmt die Ängste ernst, und überzieht dabei ein bisschen. Später erst kapieren wir: Hier hat sich einer in die Angehörigenrolle eingefummelt. Das Beruhigen und Trösten ist bereits Routine; wir erfahren bald, warum.
Max und Oliver fahren mit ihren Kameras nach New York, auf der Suche nach den Künstlern einer Szene, die Praunheim bereits in den Achzigern porträtiert hatte. Doch schon mit der Ankunft in New York eskaliert Olivers Zwangserkrankung, und überwuchert die Dreharbeiten. Die magischen Zwangsgedanken beziehen sich vor allem auf Zahlen, aber auch auf Farben. 58 und 9, das ist die Todeskombination, die sofort kompensiert werden muss mit guten Zahlen, zwei zum Beispiel. Eine nächtliche Ampel ist rot-schwarz und damit brandgefährlich. Die Farbe Weiß muss her, noch besser wäre es, einen Brillianten zu schlucken.
Zunächst versuchen die beiden jungen Filmemacher wie geplant ihre Interviewpartner aufzusuchen, und in das Nachtleben einzutauchen. Zwischen den beiden entsteht eine brisante Dynamik: Max möchte das Nachtleben genießen und an dem Film arbeiten, Oliver macht ihm Vorschriften, begrenzt seine Ausflüge, besteht auf komplizierten Ritualen. Er wird immer vorwurfsvoller, weil Max sich nicht an die Vorschriften hält. Urkomisch ist eine Szene, in der Max vor dem Schlafengehen einfach nur „Gute Nacht“ sagen will. Wer darf als letzter etwas sagen? Was genau und wie oft? Sechsmal geht es schließlich hin und her, bis Ruhe sein darf. Klappe zu. Wer schon einmal mit Zwangskranken zu tun hatte, der nickt spätestens an dieser Stelle.
Da nun schon einmal Interviews geplant sind fragt man die Künstler, wie sie es denn nun halten mit Zwängen, Ängsten und Aberglauben. Regisseur Tom Tykwer legt die Schritte fest, die er bis zu einer Tür benötigen darf, und hält sich zwanghaft daran. Der junge Filmemacher Jonathan Caouette, der bereits als Kind und Jugendlicher („Tarnation“) mit der Videokamera sein Leben mit einer schizophrenen Mutter dokumentiert hat bekennt sich zu eigenen Ritualen, um seinem Leben Sicherheit zu geben. Einige ältere Künstlerinnen und Künstler versuchen kraft ihrer Lebenserfahrung oder Spiritualität Oliver zu beruhigen oder gar zu heilen, doch sie scheitern.
So wird aus dem Porträt der New Yorker Filmszene das Porträt einer Zwangserkrankung und ihrer Auswirkungen. Oliver berichtet, wie alles anfing. Wie er nach dem plötzlichen Tod des Vaters, eines Juweliers, alle Türklinken von unten berühren musste, immer wieder. Wie er Angst um die Mutter bekam, wie er die Angst kompensierte. Er berichtet von einem langen Zwangsaufenthalt in der Psychiatrie und der Behandlung mit Neuroleptika. Er hat natürlich Erfahrung mit Psychotherapie, und ist auch aktuell in Behandlung. Medikamentenpackungen liegen auf dem Bett, der Blick fällt auf Tavor, doch er will es ohne schaffen.
Sein Geld verdient Oliver Sechting als Sozialpädagoge bei der Berliner Schwulenberatung; bei dem Dokumentarfilm „Die Jungs vom Bahnhof Zoo“ hat er von Praunheim auch fachlich beraten. Durch den beruflichen Alltag – so berichtet er nach der Vorstellung im Filmtheater Friedrichshain auf der Bühne – sei die Zwangserkrankung leidlich domestiziert. Mit dem Verlust aller Sicherheiten in der fremden Umgebung brach tatsächlich das Grauen in ihm aus. Also doch eine Doku?
„Wie ich die Zahlen lieben lernte“ ist schräg und etwas ruppig, aber sehr unterhaltsam. Da dieser Doku-Fiction-Film so gar nichts mit Psychiatrie zu tun hat, und die beiden jungen Protagonisten ausgesprochen sympathisch „rüberkommen“ wirkt er eindeutig anti-stigmatisch. Vermutlich weil er den Marcel-Ophüls-Preis gewonnen wurde schon ein Verleih gefunden (www.missingfilms.de) und wenn alles gut geht kommt der Film im Herbst in die Kinos.
Ilse Eichenbrenner
Letzte Aktualisierung: 12.06.2024