Es gibt Filme, bei denen sich vermeintlich Harmloses erst ab einem bestimmten Alter als Grauen erschließt und die deshalb erst ab einem gewissen Alter einer Beschränkung unterliegen müssten. Die Dokumentation der dänischen Regisseurin Eva Marie Rødbro gehört möglicherweise zu einem dieser Filme.
Ihr Team begleitet eine amerikanische Familie durch den Alltag, die in beengten Verhältnissen in einem Vorort von Colorado Springs lebt. Der Film beginnt damit, dass die kleine Jade das Filmteam dazu animiert, sich im Haus zu verstecken, weil sich draußen ein Geist nähere. Später wird sie erneut von Geistergeräuschen sprechen, und einmal weinend zu ihrer Mutter sagen, sie mache sich Sorgen. Diese kann sie aber auf Nachfrage hin nicht konkretisieren.
Diese Szenen sind für sich allein nicht verstörend, vor dem Hintergrund dessen, was die Zuschauer über Betty, ihre kleine Tochter Jade und deren Großmutter Wilma erfahren, rückt jedoch vieles in ein anderes Licht.
Neben der Versorgung der Kinder – der kleine Bruder von Jade, noch ein Säugling, wird in der Küchenspüle gewaschen – dreht sich der Alltag von Betty unter anderem um die Beschaffung und den Konsum von Drogen. Am Abend wird mit Freunden und der Großmutter gekifft, getrunken und Kokain gezogen, während die Kinder zwischen den Erwachsenen sitzen oder im selben Raum spielen. Der Film folgt keiner Chronologie, zwischendurch zeigt er die zurückliegende Geburt von Bettys Sohn. Bei den vielen Protagonisten, die erscheinen, bleibt häufig unklar, in welcher Beziehung sie zu Betty und ihrer Familie stehen. Ein junger Mann, möglicherweise der Vater von Jade, erfährt fünf Jahre nach einem Delikt, dass ihm eine Verurteilung droht – eine Kaution von 1.200 Dollar steht aus.
In langen Kameraeinstellungen wird Jade beim alleinigen Spielen in einem Hof und auf einem Parkplatz beobachtet, im Hintergrund sieht man auf einer vielspurigen Straße Autos vorbeirasen. Ob sie glücklich ist in diesem Leben mit seinen Umständen, bleibt unklar. In einer Szene macht sie Übungen mit einer Logopädin, die anscheinend privat bezahlt werden muss und 40 Dollar in der Stunde kostet. Antworten auf die Frage, wovon die Familie lebt, ob es für Jade und die anderen Kinder im Haus öffentliche Vorschulangebote gibt, liefert der Film nicht. In einer Szene deutet sich an, dass Betty nicht nur Drogen kauft und konsumiert, sondern mit dem Verkauf Geld verdient. In der gleichen Szene erzählt eine Freundin – und anscheinend auch Dealerin – unumwunden, dass sie Pilze nehme und stille. Ihr Kind sei jedoch gut entwickelt, und sie verspricht, dass es auch dem Baby von Betty nicht schade, wenn sie stillt und gleichzeitig Drogen nimmt.
In den Momenten, in denen Betty über ihre innere Gefühlswelt spricht, wird deutlich, dass sie die Drogen in erster Linie nicht nimmt, um Spaß zu haben. Wenn sie erzählt, dass man sich an den meisten Tagen ein Lächeln oder gute Laune aufzwingen müsse, so tun müsse, als ob, damit alle denken, es sei alles in Ordnung; wenn sie mehrmals unvermittelt anfängt zu weinen, dann zeigt sich ihre Dünnhäutigkeit, vielleicht auch eine schwere Depression.
Filmisch arbeitet Rødbro immer wieder mit Brüchen und Irritationen. Einzelne Szenen sind mit Farbfiltern überlagert oder erschließen sich wegen ihrer Verfremdung und Grobkörnigkeit nicht sofort. Häufig sind eine wackelige Handkamera und eine Infrarotkamera im Einsatz. In einer Szene erinnert die im Schwimmbecken auf dem Rücken liegende Betty an Ophelia. Die Regisseurin wertet nicht, stellt keine Fragen, sondern beobachtet und schafft so eine künstlerisch-dokumentarische Version von Hillbilly Elegy ohne Helden.
Ilja Ruhl in Soziale Psychiatrie
Letzte Aktualisierung: 02.06.2024