Bereits bevor der Spielfilm »Maria Montessori« Anfang März 2024 in die Kinos kam, nutzte die Erziehungswissenschaftlerin Sabine Seichter die Gunst der Stunde, um auf die »dunkle Seite« der berühmten Pädagogin hinzuweisen, der sie sich in ihrem 2024 erschienenen Buch »Der lange Schatten Maria Montessoris« ausführlich widmet. Der Vorwurf: In Montessoris Denken und Werk gebe es – dem Zeitgeist entsprechend – auch rassistische Theorien. Wie viele andere naturwissenschaftlich Forschende jener Zeit beschäftigte sie sich auch mit der Degeneration und suchte nach Möglichkeiten, den »normalen« Menschen zu schaffen. Diese dunkle Seite wird im Film nicht erwähnt. Die Filmemacherin Léa Todorov wollte Maria Montessoris Rolle als Frau in einer von Männern dominierten Welt würdigen. Mit einem klugen Drehbuch und einer weiteren fiktiven emanzipierten Frauenrolle ist ihr das mit diesem Film gelungen. Der Kostümfilm spielt in der Zeit der Belle Époque, zunächst in Paris, später in Rom. Alle Protagonisten tragen opulente Gewänder; es ist zunächst nicht leicht, vor allem die erwachsenen Personen zu unterscheiden.
Realer Fakt scheint zu sein, dass Maria Montessori mit einem Kollegen einen gemeinsamen Sohn hat; sie will aber nicht heiraten. Der Sohn wächst deshalb auf dem Land bei einer Amme auf; nur selten kann sie ihn sehen. Zu dieser Zeit hat sie bereits als eine der ersten Frauen in Italien Anthropologie und Medizin studiert und eine Einrichtung zur Förderung geistig und körperlich beeinträchtigter Kinder aufgebaut. Auch die schöne und reiche Kurtisane Lili hat ein heimliches Kind, das Mädchen Tina, das nicht altersgemäß entwickelt ist. Nach dem Tod ihrer Mutter muss Lili ihre Tochter selbst großziehen. In Rom kann sie einen Tagesplatz im Montessori-Haus erhalten; erst sehr viel später wird auch ein Pensionsplatz frei. Man folgt also nun den Kindern und den Betreuerinnen in den Alltag des Kinderhauses. So lernt man das berühmte Material kennen, das Montessori zur Förderung der Fähigkeiten entwickelt hat und das zum Teil auch noch in unseren Kindergärten verwendet wird. Die Kinder sind keine Schauspieler, sondern unterschiedlich schwer behindert. Diese schwierigen, ja heiklen Szenen gelingen der Regisseurin ausnehmend gut und sind aus meiner Sicht die Höhepunkte des Films. Eines Tages setzt sich Lili an das Klavier, das sie sonst in irgendwelchen Etablissements spielt, und mit ihren Märschen und Polkas bringt sie zum Erstaunen der Equipe das Kinderhaus zum Tanzen. Lili ermutigt Montessori, für ihre Tätigkeit endlich eine Bezahlung einzufordern; sie hilft ihr, ein Netzwerk aufzubauen und ein Leben als unabhängige Frau einzufordern.
Letzten Endes hat Maria Montessori ihren Sohn dann doch anerkannt. Die Aufarbeitung ihrer dunklen Seite hat wohl erst begonnen.
Ilse Eichenbrenner in Soziale Psychiatrie
Letzte Aktualisierung: 24.07.2024