»La bombe humaine« von der Rockband Téléphone, gesungen und beinahe gegrölt und von einer Gitarre begleitet, ist der furiose Start dieses Dokumentarfilms. Man ist schon einmal wach. Beschaulicher geht es weiter.
Die »Adamant« ist ein Tageszentrum für psychisch Kranke auf einem umgebauten Frachtkahn. Sie ist fest vertäut am Ufer der Seine als Teil des zugehörigen psychiatrischen Sektors von Paris. 15 Jahre lang wurde in einer Projektgruppe mit Architekten, Psychiatrie-Profis und Betroffenen geplant. Seit zehn Jahren nun gibt es dieses wunderschöne Zentrum; jeden Morgen werden die hölzernen Lamellen geöffnet, und das Licht strömt in die Räume. Zwischen alten und neuen Möbeln und auf mehreren Ebenen spielt sich das Leben ab. Die Montagsrunde beginnt mit der Frage nach neuen Besucherinnen und Gästen; heute ist es ein junger Pfleger, der ein Praktikum beginnt. Danach werden die anstehenden Aktivitäten besprochen – anlässlich des zehnjährigen Bestehens des Filmclubs wird eine Filmwoche geplant. Natürlich wird jede Menge Kaffee gekocht und ausgeschenkt – »Bitte die große grüne Tasse!«. In Workshops wird gemalt, und jedes Bild wird am Ende auf einer Staffelei platziert und vom Künstler vorgestellt. Es wird viel Musik gemacht, solo und gemeinsam. Einzelne Gäste, Besucher, Patienten berichten ausführlich über ihr Leben und ihre Symptome, wobei keine Diagnosen genannt werden. Der Dokumentarfilmer Nicolas Philibert gibt ihnen Zeit und lässt sie ausführlich zu Wort kommen. Ab und zu muss er selbst eine Frage beantworten. Einer der Besucher überrascht mit detailliertem Wissen über die Filme von Rivette, Rohmer und vielen anderen. Besonders hat es ihm Wim Wenders angetan, von dem er sich aber in »Paris Texas« ausgenutzt fühlt. Nie habe Wenders ihn erwähnt, »dieser Teufel, dieser Halunke«. Später sitzt er am Keyboard und trägt eigene Songs vor. Besonders berührend schildert ein junger Mann sein subjektives Erleben; mit Edelsteinen und einem Magneten versucht er sich vor den negativen Einflüssen von außen zu schützen. Zwei Männer – darunter der temperamentvolle Sänger vom Anfang – loben die Psychiatrie und vor allem die Medikamente. »Erst Medikamente, dann die Gespräche.« Immer wieder sitzt das gemischte Team des Cafés zusammen und macht die Abrechnung. Running Gag: Nie stimmt der Endbetrag, und man muss von vorne anfangen.
Die Darstellung von chronisch psychisch Kranken und insbesondere die Wahrung der Persönlichkeitsrechte bleiben im Film immer eine heikle Aufgabe, im Dokumentarfilm ganz besonders. Philibert hat diese Herausforderung mit einem Höchstmaß an Respekt gegenüber seinen Protagonisten gelöst, das macht er bei der Pressekonferenz deutlich. Er kennt seine Pappenheimer – auch die Profis. Bereits 1995 hat er in der psychiatrischen Klinik in »La Borde« gedreht; der Film »La moindre des choses« ist auf YouTube in Gänze eingestellt. Aktuell ist ein Triptychon geplant – »Sur l’Adamant« ist der Mittelteil des Werks. Die Aufnahmen in den beiden Pariser Kliniken sind abgedreht; eine Beobachtung der psychiatrischen Teams bei Hausbesuchen wird folgen. Philibert hat nicht nur im psychiatrischen Milieu gedreht – man denke nur an seinen preisgekrönten Film »Sein und Haben« über eine Dorfschule. Aber seine Expertise auf unserem Sektor ist doch herausragend.
Hat man den Schock über diesen Goldenen Bären erst einmal verdaut, durchforstet man die Presse. Und da kann man sich schon wundern: Einzigartig, utopisch, antipsychiatrisch sei dieses Projekt. Vielleicht sollten wir unsere Öffentlichkeitsarbeit verbessern und nicht nur jammern, wenn wieder einmal die Finanzierung einer Einrichtung infrage steht. Natürlich ist dieses Tageszentrum schon wegen des traumhaften Hausbootes spektakulär. Einmalig ist es nicht. Ich denke an die Filme über die Freiburger Hilfsgemeinschaft, an die Berliner Tageszentren oder den tatsächlich einzigartigen »Durchblick« in Leipzig: Er schwimmt zwar nicht, aber die Bauhausvilla mit Garten hat immerhin eine eigene Bootsanlegestelle.
Ilse Eichenbrenner in Soziale Psychiatrie
Letzte Aktualisierung: 02.06.2024