Der Wettbewerb der diesjährigen 69.Berlinale wurde mit dem furiosen deutschen Spielfilm „Systemsprenger“ eröffnet. Der Film beginnt mit einer Untersuchung des neunjährigen Mädchens Benni in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, wo sie bereits bestens bekannt ist. Sie ist wegen ihrer gewaltsamen Ausbrüche schon wieder aus einer Wohngruppe geflogen. Die nette Frau Bafané vom Jugendamt bringt sie erst einmal in eine Kriseneinrichtung – sie kennt das schon. Benni nennt alle Mitarbeiter »Erzieher«, persönliche Namen benutzt sie nicht. Weshalb sie denn so viele Fotoalben habe, wundert sich jemand beim Einzug. »Jedes Mal, wenn ich aus einer Wohngruppe fliege, bekomme ich eines zum Abschied.« Benni möchte zu ihrer leiblichen Mutter und versucht, das zu erzwingen, Helferkonferenzen finden statt.
Die überforderte Mutter sagt ja, macht dann wieder einen Rückzieher, Benni rastet aus. Ein Schulbegleiter, Micha, taucht auf, der eigentlich mit schwierigen Jugendlichen arbeitet. Micha soll nun Benni bei der Integration in der Schule helfen. Der kleinste Anlass genügt, und Benni rastet aus. Sie schlägt ihren eigenen Kopf oder den anderer Kinder auf unglaublich brutale Weise auf den Boden oder gegen die Wand, sie droht mit dem Messer. Diese gewaltsamen Durchbrüche enden in unsäglichem Geschrei, das filmisch brillant umgesetzt wird. Man ist als Zuschauer regelrecht psychisch und physisch in das Geschehen involviert. Das System der Kinder-und Jugendhilfe ist ratlos. Immer wieder ist eine erlebnispädagogische Maßnahme in Kenia im Gespräch. Micha schlägt als Alternative vor, mit Benni für drei Wochen in seine einsame Hütte in der Lüneburger Heide zu fahren.
Das wird für beide anstrengend, zwischendurch erfreulich, später enorm gefährlich. Wohin mit diesem Kind? Für die geschlossene Psychiatrie sei sie noch zu jung, erfahren wir, eine Pflegefamilie ist bereits gescheitert. Ist das System am Ende?
Regisseurin Nora Fingscheidt hat den Begriff »Systemsprenger« bei den Recherchen zu einem Dokumentarfilm in einer Obdachloseneinrichtung für Frauen kennengelernt, wo er für eine 14-Jährige benutzt wurde. Wir kennen ihn nur zu gut als Unwort aus der Arbeit mit erwachsenen psychisch Kranken. Kann es sein, dass er nun salonfähig wird? Auf der diesjährigen Berlinale war er in aller Munde. »Systemsprenger« wurde mit einem Silbernen Bären ausgezeichnet. Das gut recherchierte Drehbuch ist mit enormer cineastischer Wucht umgesetzt. Geradezu unfassbar ist die Performance der elfjährigen Schauspielerin Helena Zengel in ihrer Rolle als Benni.
Der Film „Systemsprenger“ ist nicht nur etwas für Profis und Insider. Nein – er ist auch einem breiten Publikum uneingeschränkt zu empfehlen. Besonders sinnvoll wäre natürlich die Vorstellung in einem Rahmen, in dem auch eine Diskussion möglich ist. Der Film wird voraussichtlich im Herbst in unsere Kinos kommen.
Ilse Eichenbrenner
Letzte Aktualisierung: 12.06.2024