Diejenigen, die den Filmknäcke bereits mehrere Jahre verfolgen, werden diesen Film möglicherweise schon kennen. „Andere Welt“ ist mittlerweile bei Netflix verfügbar, deshalb soll auf ihn im Rahmen von „Was streamt denn da“ nochmal hingewiesen werden.
Die Regisseurin Christa Pfafferot filmt 2014 in einer forensischen Klinik für Frauen in Rheinland-Pfalz Pflegerinnen und Patientinnen. Wie tief sie in dieses Thema eintaucht und der Frage nach dessen geeigneter dokumentarisch-filmischen Darstellung nachgeht zeugt ihre Dissertation, die sie zu diesem Filmprojekt verfasst hat.
Die Angelpunkte ihres Drehs sind der Gang vor einem Isolierraum, der Garten sowie das Dienstzimmer der Station. Auch bei der Auswahl der Interviewpartnerinnen beschränkt sich die Regisseurin auf wenige Personen aus dem Kreis der Patientinnen und Mitarbeiterinnen. Eine Patientin, die wegen körperlicher Übergriffe auf Mitpatientinnen mehrere Wochen im Isolierzimmer verbringt, nutzt zeitweise die Möglichkeit, aus ihrer Sicht auf Missstände in der Klinik hinzuweisen. Sie spricht von den Systemwächtern und von Versuchen sie im Vorfeld der Filmaufnahmen durch Medikamente zum Schweigen zu bringen. Mühsam erarbeitet sie sich durch ihre Zeit in diesem Zimmer erste Lockerungen.
Eine andere Patientin verbringt viel ihrer Zeit wegen Selbstgefährdung im Isolierzimmer. Lange ringen Pflegerinnen mit dem ärztlichen Personal, das im Übrigen wie kliniktypisch kaum zu sehen ist, und der Patientin um die Frage, ob eine Fixierung notwendig ist. Am Ende dieses Prozesses kommt die junge Patientin in die Fixierung und eine Pflegerin versichert ihr „wir machen auch nicht so fest“.
Eine Pflegerin, die vor vielen Jahren durch Zufall von der Kardiologie zur Forensik kam, wird gefragt, wie sie als Patient sein würde. Sie antwortet ehrlich und schonungslos, dass sie dem Personal das Leben zur Hölle machen würde und nur fixiert sein würde.
Eine Patientin, deren Fingerspitzen dauerhaft mit Heftpflastern umwickelt sind, kämpft mit ihrem Anwalt darum, dass sie in eine Einrichtung kommt, in der Patientinnen nach §64 untergebracht werden. Weil dort die Unterbringungszeiten beschränkt sind, hätte sie erstmals eine Aussicht auf Entlassung. Diese Patientin spricht auch die Diskrepanz zwischen Dienstleistungsauftrag der Forensik und der Sicherung an. Für sie fühlt sich das dort Erlebte nicht als Dienstleistung an.
Es wird auf beiden Seiten viel geraucht, im Garten, der mit der vielbefahrenen Straße im Hintergrund an eine Raststätte in einem von Christian Petzold in Szene gesetzten Niemandsland erinnert, haben Patientinnen und Mitarbeiterinnen immer eine Zigarette in der Hand.
Die eingestreuten Aufnahmen der Überwachungskameras und die Filmsequenzen aus den Eingangsschleusen, in denen eine Computerstimme die Mitarbeiterinnen immer wieder auffordert, in die Kamera zu schauen, unterstreichen das Gefühl, als Zuschauer in eine künstlich-technische Welt einzutauchen, in der Patientinnen und Pflegerinnen gemeinsam um menschliche Würde ringen.
Ilja Ruhl
Letzte Aktualisierung: 02.06.2024