Nach sechzig Jahren Erfahrung liegt das Hauptproblem der Neuroleptika-Anwendung nach wie vor in den Möglichkeiten zur differenzierten und individuellen Risiko-Nutzen-Abwägung nach dem ärztlichen Grundsatz "Zuerst nicht schaden!".
Die Psychiatrie der Nachkriegszeit blieb zunächst eine Institution der Verwahrung, und zwar auch nach Einführung der modernen Psychopharmaka in den fünfziger Jahren. Dabei wurde die Arzneimittelforschung modernisiert, erschloss einen riesigen Markt und erweiterte deutlichdie therapeutischen Optionen, schuf aber auch neue Risiken.
Ab 1952 konnten psychotische Symptome mit dem ersten Neuroleptikum Chlorpromazin effektiv beeinflusst werden. Der Pariser Psychiater Jean Delay (1907 bis 1987) erfuhr eher zufällig von dem ursprünglich zur Narkosevorbereitung bestimmten Mittel und entdeckte dann seine "antipsychotische" Wirkung. Neuroleptika ("Nervendämpfungsmittel") mit symptomreduzierender und sedierender Wirkung gibt es heute in mehreren Stoffklassen mit gut fünfzig einzelnen Wirksubstanzen (Riederer und Laux 2009).
1958 kam das Antidepressivum Imipramin auf den Markt, 1960 Librium als erster Tranquilizer aus der Gruppe der Benzodiazepine und seit 1967 das Lithium zur "phasenprophylaktischen" Behandlung von depressiven und manischen Phasen. Zum Repertoire gehören heute zudem Antiepileptika und Antidementiva.
Von der Pharmakotherapie profitierte die neurochemische und neurophysiologische Grundlagenforschung. Nachdem gesichert war, dass Chlorpromazin – wie alle Neuroleptika – die Aufnahme von Neurotransmittern im Hirn (etwa Dopamin, Glutamat, Serotonin) und somit die Nervenreizleitung hemmt, wurde ab 1966 die ätiologische Dopamin-Überschuss-Hypothese der Schizophrenie entwickelt. Ebenso schloss man aus der neurophysiologischen Wirkung von Imipramin auf die Amin-Mangel-Hypothese der Depression. Bis heute blieben dies Arbeitsmodelle, denn die Medikamente wirken "symptomatisch" und nicht ursächlich, sie können die Zielsymptome lindern, rufen aber auch unerwünschte Wirkungen hervor.
Die Anwendung der neuen Psychopharmaka, insbesondere der Neuroleptika, setzte sich im Lauf der fünfziger Jahre in den europäischen und nordamerikanischen Anstalten relativ schnell durch. Die traditionelle kustodiale, verwahrende Funktion der häufig schlecht ausgestatteten und überfüllten Einrichtungen förderte allerdings die Verwendung der Medikamente als Beruhigungs- und Disziplinierungsmittel.
Im Vergleich mit der Vorkriegszeit hatte sich das Klima in den Kliniken einschneidend gewandelt. Diese Situation war eine der Voraussetzungen dafür, dass in den sechziger Jahren fachliche Proteste laut wurden, die in den siebziger Jahren zur gemeindepsychiatrischen Psychiatriereform führten. Obwohl bereits in den sechziger Jahren vor "Schäden durch zu hohe Dosierung" gewarnt und ergänzende sozio- und psychotherapeutische Maßnahmen gefordert wurden (Baeyer 1966, S. 164), sind Neuroleptika bis weit in die achtziger Jahre hinein häufig hoch dosiert und in Kombination mehrerer Präparate verabreicht worden.
Erwünschte und unerwünschte Effekte waren kaum zu trennen, weil das Eintreten der Hauptwirkung am Auftreten von Nebenwirkungen gemessen wurde. Seitdem wurden mögliche medikamenteninduzierte Schäden in den Medien öffentlich diskutiert und auch von Vertretern der Patientenbewegung kritisch aufgearbeitet (Lehmann 1986).
Seit 2005 hat die Verordnung von Neuroleptika wieder zugenommen, auch bei Kindern und älteren Menschen. Als "extrapyramidal-motorische" Nebenwirkungenwirkungen werden bestimmte Bewegungsstörungen bezeichnet (Krämpfe, Unruhe, Muskelsteife), zudem können Neuroleptika vegetative Beeinträchtigungen, Gedächtnisstörungen und Benommenheit verursachen. Diese Beschwerden sind für die Behandelten häufig sehr unangenehm. Bei längerem Gebrauch treten unter anderem vereinzelt irreversible Bewegungsstörungen auf (Spätdyskinesien). Zur langfristigen, zum Teil jahrelangen Rückfallprophylaxe werden Depotpräparate eingesetzt. Die unerwünschten Wirkungen werden von vielen Betroffenen notgedrungen in Kauf genommen und stellen doch den Hauptgrund für Behandlungsabbrüche dar.
Große Hoffnung wurde in die neue Generation der sogenannten "atypischen" Neuroleptika gesetzt, deren Vorbild das 1971 auf den Markt gebrachte Clozapin ist. Diese Substanzen (etwa Olanzapin, Risperidon) sollten Ziel- und Nebenwirkungen trennen und werden seit den neunziger Jahren zunehmend eingesetzt, konnten aber die Erwartungennicht erfüllen (Weinmann 2008). Sie erscheinen zwar geringfügig verträglicher, sind aber weiterhin mit unerwünschten Effekten verbunden ("metabolisches Syndrom", Blutbildschäden, Gewichtszunahme, Diabetes). Ebenso wurden ab den achtziger Jahren mit den sogenannten Selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmern (SSRI, etwa Fluctin) weitere Antidepressiva entwickelt.
Die psychopharmakologische Forschung war und ist eng mit industriellen Interessen verbunden. Zudem fördern personelle und ökonomische Engpässe in den Kliniken die Vergabe von Medikamenten. Demgegenüber gab es nur wenige systematische Studien über neuroleptikafreie Psychosentherapien.
Die seit den achtziger Jahren bekannten "Soteria-Projekte" (San Francisco, Bern) ermöglichten eine personalaufwendige psychosoziale Intensivbehandlung von erstmalig schizophren gestörten Patientinnen und Patienten mit minimalen Neuroleptikagaben und guten Evaluationsergebnissen. In Finnland wurden in den neunzigerJahren mit der von Yrjö Alanen sogenannten "bedürfnisangepassten Therapie" (Vermeidung von Neuroleptika samt ambulanter psychosozialer Begleitung) geringfügig bessere Behandlungsergebnisse als mit traditionellbehandelten Vergleichsgruppen erzielt.
Letzte Aktualisierung: 04.12.2024