In der Weimarer Republik wurden mit Beratungsstellen, der offenen Fürsorge und der Arbeitstherapie neue Ansätze zur Prävention, Nachsorge und Beschäftigung entwickelt. Zusammen mit dem Ausbau der staatlichen Gesundheitsdienste etablierte sich ein effektives und modernisiertes Gesundheitssystem.
Die Katastrophe des Ersten Weltkriegs traf auch die Psychiatrie. Zum einen wurden traumatisierte Soldaten, die "Kriegsneurotiker" und "Kriegszitterer«, beobachtet und militärpsychiatrisch behandelt. Dies regte die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begonnene psychotraumatologische Forschung an.
Zum anderen gefährdete die Nahrungsknappheit ältere und körperlich kranke Patientinnen und Patienten. Ungefähr 70.000 Menschen starben zwischen 1914 und 1918 in deutschen Anstalten (Faulstich 1998). Im "Hungerwinter" 1917/18 traf es die Patienten besonders hart. 1918 standen zwei Drittel der Betten leer, somit gab es gerade noch 170.000 Insassen. Über 100 Einrichtungen waren geschlossen worden. Die Anstaltsbehandlung hatte sich seit 1900 durch die "Bettbehandlung" gewandelt. Neuen Patienten wurde in Wachsälen mehrtägige Bettruhe verordnet, zum Teil gab es auch Liegekuren im Freien.
Seit 1903 verfügten die Ärzte über Barbiturate als Beruhigungsmittel, hoch erregte Patienten wurden mit Alkaloiden wie Scopolamin gedämpft. Stundenlange, warme Bäder in geschlossenen Wannen stellten das Standardverfahren für unruhige Insassen dar und wurden bis in die vierziger Jahre angewendet.
Nach wie vor war der Beruf des Irrenpflegers schlecht bezahlt, das Personal wohnte in den Anstalten und wurde bei Nichteinhaltung der Hausordnung streng reglementiert. Erst 1912 konnten sich die Beschäftigten gewerkschaftlich organisieren. Um 1920 führten weitere Fachdiskussionen zur Einrichtung von zweijährigen Ausbildungsgängen.
In den zwanziger und dreißiger Jahren wurden Methoden entwickelt, die von der Beobachtung ausgingen, dass psychotische Symptome nach künstlich ausgelösten Krampfanfällen zurückgehen können (ab 1927 "Insulinkur", 1929 Cardiazolkrampfbehandlung, 1938 Elektrokrampfbehandlung). Diese Verfahren dominierten über zwei Jahrzehnte lang die Schizophrenietherapie. Noch um 1950 bekamen Patienten mit psychotischen Störungen in vielen Kliniken in über der Hälfte der Fälle Elektrokrampfbehandlungen. Außer dem Elektrokrampfverfahren, das heute in modifizierter Weise und mit strenger Indikation durchgeführt wird, wurden die Schockverfahren in den fünfziger und sechziger Jahren wieder fallen gelassen.
Der Portugiese Egas Moniz (1874 bis 1955) erhielt nach massiver Lobbyarbeit seiner Anhänger für die 1935 eingeführte Psychochirurgie 1949 den Nobelpreis. Die operative Zerstörung von Hirngewebe (Leukotomie) sollte schwere schizophrene oder zwanghafte Symptome lindern, führte allerdings häufig zu gravierenden Persönlichkeitsveränderungen. Die heutigen stereotaktischen Hirnoperationen, in denen kleine Hirnareale gezielt lädiert oder stimuliert werden, sind auf neurologische Indikationen (Parkinson-Krankheit, Epilepsie) begrenzt, wobei die Ausdehnung auf Zwangsstörungen und Depressionen diskutiert und klinisch erforscht wird.
In der Weimarer Republik wurden zwei Reformbewegungen bedeutsam: zum einen die "aktivere Krankenbehandlung" nach Hermann Simon(1867 bis 1947) und die "offene Fürsorge" nach dem Erlanger Modell von Gustav Kolb (1870 bis 1938). Ihre Ansätze gelten heutzutage als frühe sozialpsychiatrische Konzepte (Schmiedebach und Priebe 2003). Hermann Simons und Gustav Kolbs Konzepte sind im Kontext einer Modernisierung der Sozialsysteme in der Weimarer Republik zu betrachten, die auf der Bismarck’schen Sozialgesetzgebung, der Arbeiter- und Frauenbewegung sowie privaten Initiativen und Vereinen beruhte (etwa "Psychiatrischen Hilfsvereinen").
Beispielhaft sei Alice Salomon (1872 bis 1948) genannt, die 1908 in Berlin die erste Soziale Frauenschule leitete. Sie trug damit maßgeblich zur Emanzipation, Bildung und sozialen Sicherung von Frauen bei und förderte die Professionalisierung der Wohlfahrtspflege. Bereits 1916 existierten 13 Fachschulen für soziale Berufe in Deutschland (Wendt 2008).
Der Erlanger Anstaltsdirektor Gustav Kolb setzte auf die Tradition der Familienpflege. Das bisherige System verfügte über keine ambulante Nachsorge. Kolb sorgte ab 1908 in externen Fürsorgestellen für Sprechstunden ("stationäre Fürsorge") und Hausbesuche ("nachgehende Fürsorge"). Als Ziele nannte er unter anderem die Integration der Patienten in die Herkunftsfamilien, die statistische Erfassung aller Betroffenen und die Information der Angehörigen. Immerhin 3.519 Personen befanden sich 1911 im Deutschen Reich außerhalb von Anstalten in Familienpflege (Blasius 1994, S. 113).
Hingegen begann Hermann Simon 1914 in den Heil- und Pflegeanstalten Warstein und Gütersloh mit einer Neuorganisation der bereits im 19. Jahrhundert geförderten Arbeitstherapie. Simon ließ die Patientinnen und Patienten nach möglicher Arbeitsleistung einteilen und "nützliche" Tätigkeiten verrichten. Jeder sollte arbeiten. Das System zeigte Erfolge, man brauchte weniger Zwangs- und Beruhigungsmittel und die Gewalttätigkeiten gingen zurück. Allerdings verband der sozialdarwinistisch eingestellte und die "Euthanasie" befürwortende Simon die Arbeitstherapie mit einem rigiden Anpassungsdruck. Das Modell galt seinerzeit als fortschrittlich und wurde zahlreich kopiert.
Seit der Jahrhundertwende gab es auch zunehmend Anlaufstellen für Berufsberatung, Arbeitsberatung oder Erziehungsberatung. Allein zwischen 1922 und 1932 entstanden in Deutschland 400 Sexualberatungsstellen in öffentlicher oder freier Trägerschaft. Ein Beispieli st das 1919 gegründete Institut für Sexualwissenschaft in Berlin. Unter der Regie des Mediziners Magnus Hirschfeld (1868 bis 1934) gingen dort Forschung, Behandlung, Begutachtung und Beratung Hand in Hand. Allein im Jahr 1920 sollen rund 18.000 Beratungen und zahlreiche "Milieutherapien" stattgefunden haben.
Doch die ambulanten Konzepte trugen kaum zum Abbau von klinischen Behandlungen bei. Im Jahr 1929 erreichten die Belegzahlen der Anstalten wieder einen neuen Höchststand von mehr als 300.000 Patientinnen und Patienten. Allerdings verkürzte sich die durchschnittliche Verweildauer von 257 Tagen im Jahr 1923 auf 187 Tage (Siemen 1999, S. 18). Erst in der Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre gingen die Patientenzahlen wieder zurück.
Letzte Aktualisierung: 10.04.2024