Für die eigene Biografie ist es prägend, Angehöriger eines Menschen zu sein, der an einer schweren psychischen Erkrankung leidet. Die vielen Berichte hierzu mittels unterschiedlicher künstlerischer und medialer Ausdrucksformen machen dies deutlich. Der Filmemacher Martin Heckmann nähert sich filmisch seinem mutmaßlich an Schizophrenie erkrankten Bruder Ulli. Alte Super-8-Filmaufnahmen zeigen Ulli in seiner Kindheit und Jugend. Dieser, etwas jünger als sein Bruder Martin, ist ebenso wie er adoptiert und kam einige Jahre nach ihm in die Adoptivfamilie. Martin freut sich auf den Familienzuwachs. Die Eltern stellen sich vor, dass die beiden Jungs später gemeinsam spielen können. Die Filmaufnahmen zeigen Ulli als fröhliches Kind im Urlaub, im Fotoalbum sieht man beide Brüder lachend nebeneinander im Kinderbett liegen. Die Mutter berichtet beim Blättern durch das Fotoalbum, dass Ulli ein Kind war, das auf andere offen zuging, aber auch eine furchtbare Angst vor Menschen hatte, die ein weißes Hemd trugen, bei dem man die Knopfleiste sehen konnte.
Aus den Tagebuchaufzeichnungen des Vaters und Berichten der Mutter wird deutlich, dass Ulli mit zunehmendem Alter auffällig wird. Er schreit im Garten, tobt, wirft mitunter mit Geschirr, dann ist er wieder still und starrt vor sich hin, die Polizei ermittelt wiederholt wegen Autodiebstahls. Immer wieder ist er in der Psychiatrie, lebt zeitweise in einem Bauwagen, aber auch in einem Wohnheim, in dem er seinem älteren Bruder ein Interview vor dessen Kamera gibt, das besonders eindrücklich ist. Er sei genervt davon, dass die Ärzte ihn als krank bezeichnen, in den letzten Tagen habe er daran gedacht, sein Leben wegzuwerfen. Trotz der schonungslosen Offenlegung der schwierigen Seiten, die sein Bruder hatte, streut Martin Heckmann in seinen Film an mehreren Stellen O-Töne und Brieftexte ein, die die liebenswerte Seite von Ulli betonen. Ein Freund von Martin erzählt, er persönlich habe, anders als Menschen, die ihn nicht kannten, keine Angst vor Ulli gehabt, sondern um ihn.
Zunächst etwas irritierend sind die eingestreuten Originaltonaufnahmen von Thomas Szasz über den Zwangscharakter der Psychiatrie, die nicht so ganz zu den vielen vergeblichen Versuchen der Eltern passen möchten, Ulli in der Psychiatrie unterzubringen. Viele Male werden sie abgewiesen, obwohl ihr Sohn dort als Patient bekannt ist. In einem Interview mit der Mutter gibt es dann Hinweise darauf, dass die Eltern sich in der Klinik mehr Verständnis und Zugewandtheit für ihren Sohn und weniger Psychopharmaka-Behandlung gewünscht hätten. Die Mutter erzählt aus dem Off über ihre Schuldgefühle, weil sie ihn häufig wegschickte, wenn er bei ihr zu Hause auftauchte. Sie habe ihm nicht helfen können, weil sie nicht wusste, wie. Tragischerweise kommt Ulli bei dem Versuch ums Leben, bei Abwesenheit seiner Eltern durch ein Fenster in deren Haus zu gelangen. Häufig hat er dies in der Vergangenheit gemacht, ohne dass ihm dabei etwas zustieß.
Dem aufmerksamen Zuschauer mögen auch Zweifel an der Diagnose Schizophrenie kommen, einmal ist von einem hirnorganischen Psychosyndrom die Rede. Einige Zusammenhänge bleiben zeitlich nebulös, hat ein schwerer Unfall mit anschließendem Koma die Situation von Ulli verschärft oder erst ausgelöst? Diese und andere offenen Fragen sind womöglich vom Filmemacher gewollt oder dem collagenhaften Aufbau des Films geschuldet. Insofern ist der Film vielleicht einerseits ähnlich unstet wie sein Protagonist und andererseits so facettenreich wie dessen Leben und Einflüsse auf seine soziale Umwelt.
Ilja Ruhl in Sozialpsychiatrische Informationen
Letzte Aktualisierung: 02.06.2024