Weil sich nach »Obdachlos und psychisch krank« von 2002 maßgebliche Veränderungen in Gesetzgebung, Versorgungspolitik und Hilfeentwicklung vollzogen haben, veröffentlicht der Psychiatrie Verlag erneut ein Buch, das sich der Unterstützung psychisch kranker wohnungsloser Menschen widmet. Einige der hier formulierten Vorschläge und Forderungen sind schon länger bekannt, haben jedoch nichts an der Situation der Personengruppe geändert, sodass, wie Herausgeber Henning Daßler in seiner sehr informativen Einführung feststellt, »viele der bereits damals konstatierten Probleme fortbestehen« – ein Versäumnis, in dem sich das Ausmaß der Exklusion der betroffenen Menschen ausdrückt. Weiterhin werden wohnungslose psychisch erkrankte Menschen von psychotherapeutischen und psychiatrischen Hilfen schlecht erreicht. Und die mangelnde Abstimmung der Versorgungsstrukturen von Psychiatrie, Suchtkrankenhilfe und Wohnungslosenhilfe führt dazu, dass Betroffene ohne Hilfe auf der Straße oder in Notunterkünften leben.
Psychisch erkrankte Wohnungslose sind häufig zu instabil für Angebote der Wohnungslosenhilfe, sodass ihnen psychiatrische Angebote empfohlen werden. Bei fehlendem Behandlungswunsch und bei erfüllten Ausschlusskriterien (z.B. fehlende medikamentöse »Compliance«) erfolgt dort allerdings keine adäquate Behandlung. Zusätzlich erschwerend bestehen oft auch somatische Probleme, die die Versorgung in der Wohnungslosenhilfe verkomplizieren. Für die hilfesuchenden Menschen fühlt sich keiner komplett zuständig oder zu einer angemessenen Behandlung in der Lage, sodass sie zwischen den Systemen »verloren gehen«. Mit »Wohnungslos und psychisch erkrankt« will Daßler die Betroffenen, bei denen akute Armut und seelische Not zusammentreffen, vom Verdikt hoffnungsloser Fälle befreien.
Eingangs erzählt Andreas Jung aus Betroffenenperspektive von zwanghafter Kontrolle in seiner Herkunftsfamilie, daraus folgendem Entfliehenwollen und von Obdachlosigkeit als Phase einer Vermeidung von Zwang. In der Klinik waren Medikamente zeitweise das einzige Hilfeangebot an ihn, und er thematisiert einen Prozess der Beschämung in der Psychiatrie. Viele Patienten und Patientinnen empfänden ihre psychiatrischen Zuschreibungen so, als säße »die Schuld am Steuer« mit »Scham« als »Beifahrer«. Wer hört zum ersten Mal davon, dass psychiatrische Versorgung in ihrem Interaktionsstil Augenhöhe mitunter vermissen lässt? Jung jedenfalls hatte sich nach Kontakt mit der Psychiatrie mit dem Nietzsche-Zitat wieder aufzubauen: »Wen nennst du schlecht? – Den, der immer beschämen will. Was ist dir das Menschlichste? – Jemandem Scham ersparen.
«Das »Hard-to-reach«-Label schreibt maßgeblich den Adressierten sozialer Arbeit erschwerte Erreichbarkeit zu, während die kritische Auseinandersetzung mit den Versorgungskonzepten und -methoden bislang im Hintergrund blieb. Das gegen Entsolidarisierung gerichtete Programm der vorliegenden Publikation ist es, den Betroffenen »den Status gesprächs- und beziehungsfähiger Individuen« zuzuerkennen »und gegebenenfalls zurückzugeben«, so Daßler.
Dementsprechend empfindet Psychiaterin Janina Seebach ihre Arbeit mit den wohnungslos psychisch erkrankten Menschen in erster Linie als »professionelle Beziehungsarbeit«, als ein »Sehen, Kennenlernen, Respektieren« des Gegenübers und »als ein geduldiges, bedingungsarmes und längerfristiges« Begleiten. Sie begibt sich dabei in den Sozialraum Betroffener: »Oft wird der größte Erfolg sein, dass Menschen ein Stück Vertrauen in andere Menschen und Systeme wiedererlangen, wenn sie ein Stück ›Normalität‹ und ›Realität‹ erfahren, wöchentlich bei einem Spaziergang […] über sich selbst sprechen können und dabei erfahren, dass ihnen […] nichts passiert«, wenn sie ihre Realität mit der Realität anderer abgleichen. Positive Entwicklung (z.B. durch Nutzung weiterer Hilfeangebote) setzt erfahrungsgemäß nach Aufbau einer solchen Beziehung ein. Auch Psychologin Dagmara Lutoslawska (von Housing First Berlin), die eine offene psychologische Sprechstunde anbietet, »zu der man lediglich an der Tür der Bahnhofsmission zu klingeln braucht«, geht mit wohnungslosen seelisch Starkbelasteten spazieren. Sie schildert das Erschaffen gemeinsamer Wirklichkeit beim »psychologischen Spaziergang«, die »erinnert, reflektiert und auf Vergangenheit und Zukunft des Klienten übertragen werden kann«, was auch Beratung ermöglicht. Aus Angehörigenperspektive (Christian Zechert) wird ebenfalls die Notwendigkeit aufsuchender Krisenhilfen betont.
Aufsuchende Arbeitsweisen und Einzelbegleitungen nach dem »Street-based Assertive Outreach«-Ansatz können verhindern, dass psychisch erkrankte wohnungslose Menschen in Sichtweite der Hilfesysteme verelenden. Dass ambulante psychiatrische Pflegedienste und aufsuchende Eingliederungshilfe-Träger zu derartiger Arbeit in größerem Stil in der Lage wären, es hierzu jedoch an Zugangsstrukturen mangelt, findet im Buch keine Erwähnung, wohl das einzige Desiderat nach Lektüre dieses an beeindruckender Kompetenz reichen Bandes.
Florian Herbst in Soziale Psychiatrie
Letzte Aktualisierung: 19.04.2024