Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie
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Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen
Psychiatrie Verlag

Das nötige Rüstzeug gegen Stress

Wenn dieser Satz im Vorwort eines Fachbuchs steht, kann ich nicht anders als aufmerksam werden. Diese Abkehr von einer vorgetäuschten Allwissenheit von Medizin und Psychotherapie ist mir sofort sympathisch und lädt ein zu einer kritischen Reflexion eines komplexen Themas: Entspannung und Entspannungsverfahren.

Wie komplex das Thema wirklich ist, wird spätestens nach den einführenden Kapiteln von Gilles Michaux und Martine Hoffmann klar. Detailreich und verständlich werden alle körperlichen und hormonellen Aspekte von Stress, Stressreaktionen und Entspannung erklärt. Hier geht es unter anderem um das Zusammenspiel zwischen Orthosympathikus (besser bekannt als Sympathikus), dem stressadaptierenden Part, und Parasympathikus, dem kompensierenden Part des Vegetativums, sowie um die Wirkweisen der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse (kurz HHNA), die für die Cortisol-Ausschüttung zuständig ist. Und ganz nebenbei versteht man plötzlich, wieso besonders stark gestresste Menschen am ersten Urlaubstag plötzlich krank werden. Die Autoren schaffen es, durch alltagsnahe Metaphern das komplizierte Zusammenspiel des Nervensystems zu veranschaulichen.

»Um eine schnellstmögliche Stressreaktion zu gewährleisten, hält der Sympathikus somit auch bei Ruhe ›das Gaspedal gedrückt‹, um im Notfall schnell ›durchstarten‹ zu können, wird dabei aber vom Parasympathikus ›gebremst‹. Wenn eine Stresslage auftritt, lässt die hemmende Aktivität des Parasympathikus umgehend los und ermöglicht dann wie bei einem Kavalierstart eine blitzschnelle Abwehrreaktion. Danach kehrt das vegetative System wieder in sein Ruhegleichgewicht zurück.« (S. 27)

Entspannungsverfahren gehören gerade in der Prävention, Rehabilitation und Prophylaxe stressbedingter Gesundheitsprobleme und psychosomatischer Störungen zu den wichtigsten Interventionsformen. Sie spielen allgemein in der Therapie von psychischen Störungen und mittlerweile auch im Bereich der Gesundheitsprävention eine übergeordnete Rolle und gelten als Allheilmittel für stressbedingte Krankheiten aller Art. Diesem Wirksamkeitsversprechen und auch der Wichtigkeit der sachgemäßen Anwendung steht leider oft eine stiefmütterliche Behandlung in der praktischen Umsetzung gegenüber. »Alles, was wirkt, kann auch zu unerwünschten Nebenwirkungen führen […] Leider ist es aber immer noch gängige Praxis in klinischen Einrichtungen, dass oftmals Studierende im Praktikum oder Auszubildende ein paar vergilbte Blätter mit Übungsanleitungen in die Hand gedrückt bekommen und mit der Leitung der Entspannungsgruppen beauftragt werden.« (S. 9) Risiken und Nebenwirkungen, Indikation und Kontraindikation werden bei der Vorstellung der einzelnen Techniken wieder aufgegriffen.

Diese bilden das Herzstück des Buches, und es bleibt keine der gängigen wirkungsvollen und evidenzbasierten Entspannungsverfahren unbeleuchtet: von Klassikern wie der Progressiven Relaxation nach Jacobson oder Mitchell, dem Autogenen Training und der Meditation, über Atementspannung, Hypnose und Biofeedback bis hin zu neueren Verfahren wie Neurofeedback und digitaler Entspannung mittels Apps, Videospielen und Virtual Reality (VR). Auch das bis dato noch wenig erforschte, aber in Onlinecommunitys sehr populäre Wahrnehmungsphänomen der ASMR (autonome sensorische Meridianreaktion) findet Erwähnung. Den einzelnen Verfahren wird genügend Raum gegeben, um auch in die Tiefe gehen zu können. Grafiken, Beispiele aus der Praxis und Übungsanleitungen begleiten die Lesenden durch das Buch. Immer wieder ertappt man sich bei dem Wunsch, einzelne Verfahren direkt dem Praxistest zu unterziehen.

Auf dem aktuellen Stand der Forschung werden im letzten Teil geeignete Methoden bei unter 18- und über 66-Jährigen, für Menschen mit Neurosen oder Psychosen sowie bei situationsbedingten Störungen der Emotionsund Selbstregulation vorgestellt. Das Ende bildet ein Kapitel über Entspannungsmethoden zum Einschlafen mit einer Traumreise zum (Augen-)Schluss und weiterführenden Links zu deutschsprachigen Anlaufstellen für Entspannungsverfahren, Achtsamkeit, Hypnotherapie, Bio- und Neurofeedback und Yoga. Alle vorgestellten Übungen sowie eine Audiodatei der Traumreise können zum Buch heruntergeladen werden.

Den guten Vorsatz zu Beginn des Buches »Mit diesem Buch wollen wir Anfängern, aber auch erfahrenen Kolleginnen und Kollegen das nötige Rüstzeug an die Hand geben, um Entspannungstechniken bei verschiedenen Störungsbildern optimal einzusetzen« hat das Autorenteam gelungen umgesetzt. Herausgekommen ist ein Handbuch und Nachschlagewerk, das darüber hinaus ein Plädoyer für eine individualzentrierte Diagnostik und Therapie ist, in der gängige Methoden hinterfragt und an die jeweiligen Menschen, Situationen und Hintergründe angepasst werden – auch in punkto Entspannungsverfahren.

Melanie Czarnik in Soziale Psychiatrie

Letzte Aktualisierung: 12.04.2024