Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie
Dachverband Gemeindepsychiatrie
Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen
Psychiatrie Verlag

Selbstmitgefühl bei psychischen Erkrankungen

Die Autorin Mirjam Tanner, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, hat sich zwei Begleiter erschaffen: Sandra und Alex, Menschen mit Psychiatrieerfahrung, Therapie- und Genesungserfahrung, die auf der Suche nach ihrem Selbst, ihren Gefühlen sind. Diese Figuren sind fiktiv, ihre Erfahrungen sind real und stehen für viele Psychiatrieerfahrene. »Wenn wir (...) keine wohlwollende und vertrauensvolle Bindung in (…) unserer Kindheit aufbauen und erleben konnten, führt das zu folgenschweren seelischen Verletzungen.« (S. 105)

Sandra wurde in der Kindheit missbraucht. Sie verletzte sich selbst, hat Fressattacken und hört Stimmen.

Alex hat in relativ jungen Jahren seine Frau verloren. Er stürzt sich in Arbeit und verdrängt seine Trauer. Die Folge: Schlafprobleme, Erschöpfung, Konzentrationsschwierigkeiten, schließlich ein psychischer Zusammenbruch.

Das Problem der beiden ist ihr extremer Umgang mit Gefühlen. Doch Gefühle kann man nicht wegdrücken, Gefühle gehören zum Leben dazu. Tanner erklärt, wie Gefühle entstehen, was sie auslöst, und macht Vorschläge, wie man mit den Gefühlen sinnvoll umgehen, eine Art »Gleichgewicht der Gefühle« herstellen kann. Im Einzelnen geht es darum: Gefühlsabläufe wahrzunehmen, Emotionen zu benennen, Abstand zu den Emotionen zu schaffen, um mit den Emotionen umgehen zu können. Zentral ist Mitgefühl. Zur Gesundung hilft Zeit, Wohlwollen, Offenheit und Interesse für sich selbst.

Was heißt das für die beiden Protagonisten? Alex schämt sich für seine Tränen, er hält sie für »Gefühlsduselei«. Aber: Besser ist es, lernt er, sie als notwendigen Gefühlsausdruck zu begreifen, der zum Leben gehört. Konzentrationsschwierigkeiten und Erschöpfung werden von ihm nun als sinnvoll begriffen und langsam versteht er: Die Ursachen seiner Trauer-Abwehr liegen lange zurück. Alex erinnert sich daran, wie seine Mutter sich abwandte, wenn er Gefühle zeigte, also verzichtete er auf das Zeigen von Gefühlen.

Sandra wuchs ohne Zuwendung ihrer Mutter und mit unberechenbarem Verhalten ihres Vaters auf. In einer Pflegefamilie wird sie missbraucht. Sie entwickelt ein fundamentales Misstrauen Menschen gegenüber. Nur langsam »kann sie sich für die Fürsorge ihrer Mutter und ihrer Therapeutin öffnen und ein Gefühl der Verbundenheit mit ihnen entdecken«. (S. 127)

Sowohl Sandra wie auch Alex lernen im Laufe der Therapie, sich gut um sich selbst zu kümmern und sich anzunehmen. »Unsere Schwachpunkte zu kennen, kann eine große Hilfe dabei sein, dem Leben einen Dreh zu geben.« (S. 51)

Das Buch enthält zahlreiche Übungen zur Selbstberuhigung und Selbstfürsorge, um eine »gesunde innere Atmosphäre« (S. 120) herzustellen mithilfe von Achtsamkeit. Diese »ist offen, interessiert und nicht verurteilend.« (S. 41)

Ein anregendes Buch für Profis, Angehörige und Erfahrene.

Jürgen Blume in Psychosoziale Umschau

Letzte Aktualisierung: 12.04.2024