Jede Beratungssituation hat etwas Exklusives, im Sinne von Ausschließendes: Ratsuchende und Berater kommunizieren im geschlossenen Rahmen, ohne Zuschauer oder Zuhörer. Die Beraterin ist gesetzlich an die Schweigepflicht gebunden, der Klient oder die Klienten verpflichten sich zum Schutz ihrer Privatsphäre in der Regel ebenfalls zum Stillschweigen über Details des Beratungsprozesses. Dennoch – oder gerade deswegen – ist die Neugier außerhalb der Praxis groß: Was passiert da drin? Wäre das auch was für mich, für uns? Nicht zuletzt lebt der Fortschritt allen beratenden / therapeutischen Handelns davon, dass Praktiker ihre Erfahrungen zugänglich machen, sei es zur Nachahmung, sei es zum Bessermachen.
Hartwig Hansen, Jahrgang 1957, Diplom-Psychologe, versteht eine Menge von Beratung, und er versteht viel vom Büchermachen. Er hat etliche Jahre den Psychiatrie Verlag geleitet, später ein halbes Dutzend Bücher im Paranus Verlag herausgegeben. Vor allem aber hat er (bisher) fünf Bücher selbst geschrieben. Sie erzählen alle aus seinem zweiten Leben als Berater, Paartherapeut und Supervisor.
Im Frühjahr 2019 erschienen ist »Lieben ist schöner als Siegen«. Hansen macht uns diesmal bekannt mit seinem inneren »Kompass der vier großen A«, der ihn bei der Beratungsarbeit leitet: A wie Ankoppeln, A wie Am Auftrag arbeiten, A wie Aufmerksamkeit fokussieren, A wie Auswirkungen überprüfen. Es folgen einhundert Merksätze, jeweils eingebettet in sorgsam konstruierte Fallvignetten von manchmal weniger als einer Seite Länge. »Lieben ist schöner als Siegen« lautet einer dieser Sätze, im Büchlein zu finden unter Nr. 86 auf Seite 140. Nummer 87 behandelt das »Pümpel-Theorem«, schon bekannt aus Hansens Frühwerk »Die Liebe wiederfinden« (2009). Nein, ich werde auch diesmal nicht verraten, was es mit dem Pümpel auf sich hat. Lesen Sie selbst.
Auf Nummer 1 bis 100 folgen noch eine »Zusatzzahl« und ein sechsseitiges Literaturverzeichnis mit ausgewählten Schriften zum weiten Feld der Paartherapie. »Beziehungen sind kompliziert und verwickelt«, meint Hansen (S. 165), »und es gibt – das merkt der aufmerksame Zuschauer – einen entscheidenden Grund: Es wird gar nicht oder deutlich zu wenig miteinander geredet.« Das zu ändern, ist die Mission von Hartwig Hansen.
Man nimmt ihm gerne ab, dass er seine Arbeit auch nach 20 Jahren unverändert als spannend erlebt. Zu Hansens beraterischem Selbstverständnis gehört unter anderem die Erkenntnis, gleichzeitig auch »erstes Grundgesetz« seiner Haltung: Es kommt immer anders, als man denkt. Immer! Gute Lektüre für Menschen, die mit dem Thema Beziehungen noch nicht endgültig abgeschlossen haben.
Martin Osinski in Soziale Psychiatrie
Letzte Aktualisierung: 17.04.2024