Die klassischen Langzeitstudien der 1970er-Jahre, in denen gezeigt werden konnte, dass die Verläufe schizophrener Störungen außerordentlich vielfältig und die Ausgänge überwiegend günstig sind, hatten die Praxis der psychiatrischen Arbeit bis in die 1990er-Jahre hinein durchaus noch nicht durchgängig erreicht. Damals hatte sich längst nicht überall herumgesprochen, dass nichts für einen schicksalhaft vorbestimmten Krankheitsprozess der Schizophrenien und ihrer vielgestaltigen Erscheinungsformen sprach.
Die erste Auflage der von Wienberg und Mitarbeitern konzipierten psychoedukativen Gruppenarbeit leistete 1995 einen ganz entscheidenden Beitrag dazu, mit dem „klassischen“, Defizit orientierten Schizophrenie-Verständnis aufzuräumen. Der psychoedukative Effekt auf die Einstellung der Mitarbeiterschaft, den bereits die erste Auflage leistete, ist nach Meinung der Rezensentin nicht zu unterschätzen.
Es gelang, ein Gruppenarbeitskonzept vorzulegen, in dem im Rahmen des Verletzlichkeits-Stress-Bewältigungsmodells eine tragfähige Basis geschaffen wurde für eine partnerschaftliche Zusammenarbeit zwischen Betroffenen und Professionellen, ausgehend von einem Verständnis offener Lebensverläufe, das auch für an Schizophrenie erkrankte Menschen gilt; Lebensverläufe, bei denen neben Umweltfaktoren sowie biografisch einschneidenden Ereignissen auch das eigene Selbstverständnis und die eigenen Lösungsversuche eine entscheidende Rolle spielen.
Dieses Grundverständnis bildet weiterhin die Basis der vorliegenden Ausgabe. Lediglich die Bedingungsfaktoren der Verletzlichkeit wurden auf den letzten Stand der Forschung gebracht. Nicht zu unterschätzen ist die Reduzierung von Ängsten durch sachliche Informationen, die im Pegasus-Konzept stets eingebettet in einen offenen Dialog mit den Moderatoren präsentiert werden und unter den Gruppenteilnehmern diskutiert werden.
Dass das Pegasus-Manual nun seine 6. Auflage erlebt, ist seiner vitalen Verbindung von Praxis und Theorie zu verdanken. Anders als die meisten psychoedukativen Konzepte ist Pegasus nicht an einer psychiatrischen Universitätsklinik entwickelt worden, sondern in steter Wechselwirkung mit seiner praktischen Erprobung in unterschiedlichen, vor allem außerklinischen, teilstationären oder rehabilitativen Bereichen.
Das Pegasus–Konzept hat im Laufe seiner inzwischen achtzehnjährigen Anwendung insbesondere von den Betroffenen selbst gelernt. So fließt in die jetzige Auflage zum Beispiel eine von Wienberg 1998 durchgeführte Befragung ein, in der ermittelt wurde, dass die Gruppenteilnehmer tatsächlich in die Lage gebracht werden, die Inhalte der 14 Stunden so auf sich selbst zu beziehen, dass sie auch im Alltag damit umgehen können. Vermutlich durch den neu gewonnenen, in Erwachsenenbildung versierten Mitautor Christoph Walther wird in der vorliegenden Auflage noch deutlicher als früher auf die für Erwachsene angemessene Didaktik Wert gelegt.
Das "Wie" der Wissensvermittlung rückt so in den Vordergrund, also die Art und Weise, wie es gelingen kann, Interesse, Motivation und Neugier über 14 Stunden hinweg aufrechtzuerhalten. Dazu gehört unter anderem, das Vorwissen und die Lern- und Bildungsbedürfnisse der Teilnehmer vor jeder Stunde abzufragen und sich darauf zu beziehen.
Informationen zur Pharmakotherapie mit allen bekannten Vor- und Nachteilen wurden von Michaela Berg auf den aktuellen Stand gebracht. Auch auf diesem Feld wird das kritische Mitdenken der Betroffenen angeregt und zu dem von den behandelnden Ärzten einzufordernden Dialog ermutigt. Neu in der jetzigen Auflage ist außerdem eine stärkere Berücksichtigung psychotherapeutischer Möglichkeiten.
Auf der dem Buch beigefügten CD werden Vorlagen und Materialien für die 14 Stunden mitgeliefert. Der Download klappt problemlos, wie die Rezensentin im Selbstversuch feststellen konnte. Die Materialien können sowohl ausgedruckt als auch mittels Beamer präsentiert werden. Versprochen wird im Vorwort, dass der Downloadbereich laufend aktualisiert wird. Dafür ist im Impressum Zugang und Passwort zu finden.
In der Hand von erfahrenen Mitarbeitern ist dieses Manual ein didaktisch sehr gut aufbereitetes, flexibel zu handhabendes Werkzeug und damit weiterhin eine große Bereicherung und Ergänzung der praktischen psychiatrischen Arbeit. Die positiven Auswirkungen psychoedukativer Gruppenarbeit auf das eigene Selbst- und Krankheitsverständnis und damit verbunden auf eine bessere Lebensbewältigung werden neuerdings übrigens auch in den S3-Leitlinien zu psychosozialen Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen bestätigt.
Renate Schernus in Soziale Psychiatrie
Letzte Aktualisierung: 17.04.2024