Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie
Dachverband Gemeindepsychiatrie
Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen
Psychiatrie Verlag

Beziehungskisten

Eine Kiste ist ein Behältnis, in dem vielerlei Objekte, geordnet oder ungeordnet, aufbewahrt werden können. Der Inhalt der hier besprochenen »Kiste« handelt von Beziehungen. Einem eklektischen Ansatz folgend stellt das Buch inhaltlich und methodisch differente Untersuchungen zu Beziehungen psychisch erkrankter Menschen vor und spiegelt so die Vielfalt einer sich öffnenden Beziehungskultur in der sozialpsychiatrischen Landschaft.

Das erste Kapitel präsentiert Ergebnisse einer Studie zur Partnersuche von psychisch erkrankten Menschen. Den zweiten Baustein liefert eine Untersuchung zur Dialektik professioneller Beziehungen im Wechselspiel zwischen Bedürfnissen und Interessen betroffener Menschen und psychiatrischem Unterstützungsbedarf. Drittens geht es um die Beziehungsgestaltung und den Teamgeist von EX-IN-Genesungsbegleitern und -begleiterinnen, bevor viertens eine Befragung zur Beziehungskultur behinderter und nichtbehinderter Menschen in einem Fußballstadion vorgestellt wird. Bemerkenswert sind die vielen Beiträge und Stimmen von Betroffenen. Langsam wächst, was in der Fachliteratur Jahrzehnte fehlte.

Die Forschungsarbeit zur Partnersuche von Menschen mit psychischen Problemen klärt zunächst über Verständnis, Wünsche und Bedarfe der Befragten auf. Die wichtigste These konstatiert die Annahme einer defizitären Partnersuche durch Einschränkungen in der Kontaktaufnahme. Berücksichtigt werden Lebensführung und Biografie der Betroffenen sowie Besonderheiten des »Partnermarktes«. Das meint u.a. die mangelnde Verfügbarkeit von sozialen Netzwerken, den Einfluss von Stigmatisierung, soziale Wohnformen und die Beziehung zu Mitarbeitenden. Fazit: Störungen in der Anbahnung intimer Beziehungen sind vorhanden, lassen sich aber reduzieren. Problematisiert wird der negative Einfluss stigmatisierender Überzeugungen von Beschäftigten im psychiatrisch-psychotherapeutischen Bereich.

Empfohlen wird die Erforschung der »Tragfähigkeit« von intimen Beziehungen Betroffener. Angesichts der Beobachtung, dass die subjektiven Möglichkeiten von Menschen, die an psychischen Einschränkungen leiden, durch das klassische Rollenverständnis von Partnerschaft beschränkt werden, empfiehlt das Autorenteam außerdem, dass Kategorien wie Geld, Leistung, Status oder Kinder im Genesungsprozess eine Relativierung erfahren sollten.

Die zweite Studie erforscht die Beziehungsgestaltung der »Profis«. Datengrundlage bilden neun halbstrukturierte Einzelinterviews, welche langfristig angelegte Betreuungsbeziehungen zwischen Betroffenen und Profis fokussieren und die Nähe-Distanz-Balance beobachten. Dabei wird nach Hierarchien und Machtgefällen gefragt, Partizipation und Hilfeplanung werden als Reflexionsinstrumente analysiert. Daneben wird das Spiel mit Rollen untersucht, ebenso wie Fallen und Potenziale derselben. Die Autorin stellt gelingende professionelle Beziehungen den Beziehungsmangelerfahrungen von Klienten und Klientinnen gegenüber.

Die dritte Studie klopft die Beziehungsentwicklung von EX-IN-Genesungsbegleitern (EGB) ab. Dazu wurden 21 Prozent der EGB aus 148 Diensten befragt. Bearbeitet wurden Aspekte von Zugehörigkeit und Distanzierung, von Kollegialität sowie von Erweiterung und Integrität. In den Befragungen erweist sich die Rollenfindung der EGB als besonders »anstrengend«. 80 Prozent der EGB arbeiten bei reduziertem Stundenumfang, was ihren Status gegenüber den festen Mitarbeitern häufig senke. Eine weitere Herausforderung sei die Bewältigung von Belastungssituationen. Dagegen bringe die Beschäftigung von EGB für die Teams eine deutlich höhere Reflexivität und steigere die Qualität der Arbeit aller Beteiligten.

Sahnehäubchen des Buches ist die Studie zur sich öffnenden Fußballkultur beim FSV Mainz 05, denn behinderungsspezifische Studien zu Sozialraumorientierung, Community Care und Inklusion vernachlässigen meist den Freizeitbereich. Ausgangspunkt der Überlegungen war hier: Einerseits verbindet die Begeisterung für den Fußball unabhängig von Nationalität, Hautfarbe und Geschlecht. Andererseits verfügt die Freizeitgestaltung im Breitensport auch zehn Jahre nach Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention noch immer nicht über offene, das heißt »inklusive Strukturen«.

Das bestätigt der Rezensent, selbst Initiator eines »Rates für Offenheit und Vielfalt« bei einem traditionellen Berliner Fußballverein. Angewandt wurden in dieser Studie Fragebögen, leitfadengestützte Interviews sowie teilnehmende Beobachtung. Das Forschungsdesign sollte Fremdverstehen und Multiperspektivität berücksichtigen. Ein großer Teil der Befragten war mobilitätsbeschränkt, 19 Personen arbeiteten in einer Werkstatt für behinderte Menschen. Die Studie zeigt, dass in der Fußballkultur der Aspekt von »Zugehörigkeit« eine wichtige Rolle spielt. Alles in allem wird es durchaus gewinnbringend sein, den Konsum der Bundesliga samstagnachmittags gegen die Lektüre von »Beziehungskisten« auszutauschen.

Stephan B. Antczack in Soziale Psychiatrie

Letzte Aktualisierung: 26.04.2024