Ein mutiges Buch, das von der Motivation und dem Beharrungsvermögen der Autoren zeugt, sich den technokratischen Entwicklungen im deutschen Gesundheitssystem zu stellen und für eine Behandlung psychischer Störungen zu kämpfen, die optimale Bedingungen für eine Wiederherstellung psychischer Gesundheit schafft.
Die Zersplitterung im deutschen Gesundheits- und Sozialwesen hat hohe Barrieren entstehen lassen, die wirksam verhindern, dass international konsentierte Grundsätze bei der Behandlung psychischer Störungen umgesetzt werden: ambulant vor teilstationär vor stationär, so nah am Lebensfeld wie möglich, informelle Unterstützung (Familie, Freunde, Gemeinde) vor fachlicher Unterstützung, unterstützte Entscheidung statt ersetzender Entscheidung, Kontinuität bei der Behandlung, Förderung der Selbsthilfe, flächendeckende hohe Behandlungsqualität für alle Bürger.
In Skandinavien, Kanada, Australien und Großbritannien selbstverständliche Behandlungsformen wie multiprofessionelle gemeindepsychiatrische Teams und Hometreatment kamen in Deutschland nur in Verträgen der Integrierten Versorgung für Mitglieder einzelner Krankenkassen in einzelnen Regionen zum Tragen. Erst die Vereinbarungen über Regionalbudgets in der Psychiatrie haben eine Perspektive für eine flexible, umfassende und faire Behandlung von Menschen mit psychischen Störungen eröffnet.
Deister und Wilms zeigen verständlich und mit tiefem Einblick in den deutschen Regelungsdschungel, wie solche Regionalbudgets zustande kommen, welche Akteure dafür erforderlich sind, welche Voraussetzungen zu schaffen sind und wo die Hindernisse liegen. In psychiatrischen Regionalbudgets verzichten die Krankenhäuser auf eine Mengenausweitung ihrer Leistungen, es wird ein jährliches Budget, das Regionalbudget mit allen gesetzlichen Krankenkassen vereinbart. Im Gegenzug erlauben die Krankenkassen den Krankenhäusern, ihre Patienten so flexibel zu behandeln, wie sie das für erforderlich halten: aufsuchend, mit Hometreatment, intensiv ambulant, (halb)tagesklinisch, nachtklinisch, stationär, intermittierend teilstationär, solange wie es den Bedürfnissen der Patienten und den fachlichen Standards entspricht. Regionalbudgets sind wissenschaftlich untersucht und haben sich der Standardversorgung im psychopathologischen Outcome und der Lebensqualität mindestens gleichwertig, beim allgemeinen und beruflichen Funktionsniveau als überlegen erwiesen – ohne zusätzliche Kosten, denn die bleiben im Rahmen des vereinbarten Budgets.
Kliniken verkleinern sich, Mitarbeiter der Kliniken verändern ihre Arbeitsweise, wenn sie ihre Patienten in ihrem Lebensraum (der Wohnung, der Gemeinde, der Nachbarschaft) kennenlernen und den künstlichen Raum (Akutstation) verlassen. Erst dadurch werden die Voraussetzungen geschaffen, Genesungskräfte und Ressourcen zu entwickeln und gleichzeitig klinischen Rückhalt für Krisen zu gewährleisten. Moderne und vielversprechende Behandlungsformen wie das Need Adapted Treatment brauchen solche Flexibilität, um zur Anwendung zu kommen.
Wilms und Deister machen die deutsche Psychiatrie zukunftsfähig, nachdem sich unser Gesundheitssystem in den letzten 20 Jahren als unfähig erwiesen hat, die Verläufe psychischer Störungen nachhaltig zu verbessern, die Frühverrentungen aufgrund psychischer Störungen zu reduzieren, das Phänomen der Drehtürpsychiatrie zu bekämpfen und den zunehmenden Bedarf an Behandlungsplätzen in der forensischen Psychiatrie aufzuhalten. Nicht einmal die Befürworter des neuen Entgeltsystems PEPP behaupten, dass sich mit PEPP an nur einem dieser Probleme etwas ändern würde. Das Buch ist ausgesprochen aktuell, auf Stand Juli 2014, seit Oktober 2014 zu kaufen und sei damit wärmstens empfohlen für alle, die mit der Situation der deutschen Psychiatrie unzufrieden sind.
Martin Zinkler in Sozialpsychiatrische Informationen
Letzte Aktualisierung: 26.04.2024