Asmus Finzen beschäftigt sich in seinem Buch mit dem Begriff der Normalität in Gesellschaft und Psychiatrie. Damit erinnert es ein wenig an das sehr erfolgreiche Buch des Psychiaters und Theologen Manfred Lütz, in dem der Autor sich ebenfalls mit der Frage nach Normalität und psychischer Erkrankung auseinandergesetzt hat. Anders als Lütz geht es Finzen nicht um eine humorvolle Darstellung des Themas. Er geht tiefer, bemüht soziologische und medizinische Definitionen von Krankheit und Normalität und berücksichtigt kulturabhängige Aspekte.
Zunächst befasst sich Finzen mit Normen und Erwartungen und ihre Wandelfähigkeit vor dem Hintergrund sich verändernder Gesellschaften. Als Beispiel zieht er unter anderem Tätowierungen heran, die heute, ohne besondere Aufmerksamkeit zu erregen, offen getragen werden. In einem zweiten Schritt wird der Zusammenhang von Normalität und Gesundheit beleuchtet. Hier erfährt der Leser, dass das Klinische Wörterbuch Pschyrembel sich lediglich auf zehn Zeilen mit dem Begriff »Gesundheit« befasst, ein Wörterbuch der Soziologie immerhin auf fünfzig Zeilen. Aus soziologischer Sicht unterliegen die Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit gesellschaftlichen Veränderungen. Interessanterweise gilt dies auch zum Teil für somatische Erkrankungen.
Im folgenden Kapitel geht Finzen näher auf die Frage ein, ob seelische Gesundheit und psychische Erkrankung taugliche Normalitätsmodelle sind. Die grenzlosen Übergänge zwischen Gesundheit und Krankheit werden u.a. an Beispielen wie Schlaf(störungen), Überreiztheit, Deprimiertsein und Ängsten erläutert. Auch das Ausmaß subjektiven Leidens steht mitunter in Widerspruch zu vermeintlich objektiven psychiatrischen Diagnosekriterien. Der Autor widmet sich in diesem Kapitel auch dem Widerspruch zwischen der vermeintlichen Zunahme psychischer Störungen und den tatsächlichen Erkrankungszahlen – und vermittelt dabei gleich auch etwas Wissen über die Fallstricke epidemiologischer Forschung. Es schließen sich zwei Kapitel an, die erläutern, wie in der Psychiatrie psychische Störungen diagnostiziert werden.
Die Ausweitung der Diagnosen im DSM und die bevorzugte Heranziehung der Diagnosekriterien aus den Klassifikationssystemen ohne gleichgewichtete Berücksichtigung von Krankheit, Vorgeschichte und klinischer Untersuchung sieht Finzen kritisch und betrauert die abnehmende Bedeutung der Present State Examination (PSE) und des Katalogs der Arbeitsgemeinschaft für Methodik und Dokumentation in der Psychiatrie (AMDP), der dann auch über mehrere Seiten abgedruckt wird.
Ein ganzes Kapitel widmet Finzen der kritischen Auseinandersetzung mit der Primärprävention. Er bezieht klar Stellung, sieht für Heranwachsende mehr Risiken als Nutzen in der Früherkennung z.B. der Schizophrenie und erinnert an die Gefahr einer Verselbstständigung von präventiven Maßnahmen hin zur Inhumanität.
Als »Nagelprobe« bezeichnet Finzen die forensische Psychiatrie. Die begutachtete Schuldfähigkeit oder -unfähigkeit ist aus Sicht des Autors aber auch kein Indikator für die Frage, ob es sich hierbei um einen sogenannten normalen Menschen handelt oder nicht. Die Begutachtung ist oft sogar entkoppelt von der Tat und ihrer Einschätzung. Häufig findet sie vor der gerichtlichen Aufarbeitung der Tat statt, nicht immer stellt sich der begutachtete Mensch später vor Gericht als Täter heraus.
Die während der Lektüre lange gehegte Hoffnung, dass sich die durchgängige Kennzeichnung eines Unterabschnitts als »Schussbemerkung« am Ende als eine bewusste Irritation herausstellen könnte, der sich eine Diskussion von Erwartungen und Normalitätsvorstellungen anschließt, konnte leider nicht bestätigt werden. Auch mehrere andere Textstellen weisen auf Nachlässigkeit bei der Schlusskorrektur hin. So werden z.B. falsche Paragrafen aus dem StGB genannt, von mariniert-bizarrem Verhalten geschrieben – oder Menschen leiden an Systemen statt an Symptomen.
Finzen spricht viele Themen an, behält dabei immer einen kritischen Blick, lässt seine persönliche Meinung einfließen und verweist gelegentlich auch quer, z.B. zur Leitkultur- und Kopftuchdebatte. Diese Vielfalt ist einerseits eine Stärke des Buchs, mitunter aber auch seine Schwäche: Wer interessante Anregungen und Argumente zur Diskussion um Normalität und Abweichung, Gesundheit und Krankheit im Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen sucht, wird fündig. Leser, die eine stringente Analyse des Begriffs »Normalität« erwarten, werden erleben, wie erfolgreich er sich der Zähmung widersetzt.
Ilja Ruhl in Soziale Psychiatrie
Letzte Aktualisierung: 26.04.2024