"Kooperation: Anspruch und Wirklichkeit" – schon der Titel traf einen chronisch gereizten Nerv des Rezensenten. Im günstigen Fall war neue Erkenntnis, schlimmstenfalls die Bestätigung lange gepflegter Vorurteile zu erwarten.
"Integration durch Kooperation" hieß 1994 ein ambitioniertes Fortbildungsprogramm, mit dem das Enthospitalisierungsprojekt der Landesklinik Neuruppin vorbereitet und begleitet wurde. Trialog und EX-IN waren noch nicht erfunden; aber die Seminargruppen waren multiprofessionell und leistungserbringerübergreifend zusammengesetzt, sogar eine Mitarbeiterin des Sozialpsychiatrischen Dienstes der Kreisverwaltung war dabei. Dank großzügiger Unterstützung der Robert-Bosch-Stiftung für Bildung und Behindertenförderung konnten wir Referentinnen und Referenten wie Ursula Plog, Matthias Heißler, Klaus Nouvertné und Klaus Dörner genießen. Das ist zwanzig Jahre her.
Integration ist – na ja, sagen wir – in vielen Fällen gelungen. Inzwischen befinden wir uns im Übergang zur Inklusion – sehen uns aber auch mit den Mühen der gemeindepsychiatrischen Ebene konfrontiert. Kooperationsbeziehungen von damals halten teilweise bis heute. Etwas in Vergessenheit geraten sind die weisen Hinweise Professor Dörners aus jener Zeit: stets zu beachten, dass die verschiedenen Akteure alle auf dem gleichen Spielfeld stehen, alle nach den gleichen Regeln spielen, aber mit unterschiedlichen Aufträgen unterwegs sind bzw. auf verschiedene Tore zielen. Dörner wollte uns offenbar davor schützen – im alltäglichen Gefecht um das Wohl des Klienten –, die eigene Perspektive als die allein seligmachende zu überhöhen.
Seine Botschaft lautete sinngemäß, die jeweils anderen (ob Kostenträger, Angehörige, Klinikmitarbeiter, Betreuerinnen usw.) mit ihren Haltungen, ihrer Motivation, ihren Zielen und Aufträgen zu respektieren, anstatt sie moralisierend zu be- oder verurteilen. Wie also ist es heute um die Praxis der Kooperation im gemeindepsychiatrischen Feld bestellt?
Längst reicht das Bild vom sozialhilferechtlichen Dreieck (Leistungsträger, Hilfeempfänger, Leistungserbringer) nicht mehr aus, um die Versorgungsrealität zu beschreiben. Petra Gromann schlägt ein „magisches Fünfeck“ von Zielkonflikten als Bezugs- oder Beschreibungsrahmen vor (Ökonomie, Selbstbestimmung und Teilhabe, Flexibilität und Personenzentrierung, Sozialräumlichkeit, koordinierte Sorge; vgl. S. 164). Im berufsbegleitenden Masterstudiengang Soziale Arbeit/Gemeindepsychiatrie im Fachbereich Sozialwesen an der Hochschule Fulda sind dazu einige Forschungsarbeiten entstanden, die im vierten Band der hier besprochenen "Fuldaer Schriften zur Gemeindepsychiatrie" präsentiert werden.
Den vorgelegten Berichten ist gemeinsam, dass sie einerseits die Notwendigkeit von Steuerung und Kooperation betonen, andererseits allerorten auf erhebliche Defizite in genau diesen Disziplinen stoßen. Ob es um Hilfen für psychisch kranke Mütter und ihre Familien geht (Kathrin Graupe-Rudolph und Jessica Schönrock), um Qualitätskriterien für Hilfeplankonferenzen (Judith Ommert und Lisa Reitz) oder die Kooperation mit rechtlichen Betreuungspersonen (Klaus Budinger u.a.) – auf methodisch unterschiedlichen Wegen gelangen die Autorinnen und Autoren zu praktisch bedeutsamen Erkenntnissen über strukturelle, aber auch individuelle Wirkfaktoren.
Die Arbeiten sind sowohl inhaltlich als auch methodisch durchweg anspruchsvoll. Wohltuend spürbar ist die Praxiserfahrung, die alle Autoren mitbringen. Mein persönlicher Favorit ist Klaus-D. Liedkes Beitrag über „Möglichkeiten der Integrierten Versorgung“ am Beispiel der VERSA Rhein-Main GmbH, weil er gekonnt in alle Ecken des Fünfecks und darüber hinaus schaut. Die Lektüre sei allen empfohlen, die sich bei der Polygonisierung des Sozialraums nicht verheddern und andere nicht strangulieren wollen.
Martin Osinski in Soziale Psychiatrie
Letzte Aktualisierung: 24.11.2022