Heiner Keupp, einer der wichtigen und langjährigen Weggefährten der Sozialpsychiatrie und DGSP, legt einen Reader mit zwölf Aufsätzen vor, die in den letzten Jahren an den verschiedenen Orten veröffent-licht wurden und die zum einen seine vielfältigen Aktivitäten im Feld der Gemeindepsychologie bezeugen und gleichzeitig – das ist das Wichtigere – seine nach wie vor ungebrochene kritisch-reflexiv-kommunitäre Orientierung, die ihn in die Lage versetzt, Einspruch zu erheben und politische Perspektiven aufzuzeigen.
Das Buch ist gegliedert in vier thematische Abschnitte. Der erste Abschnitt setzt sich mit psychosozialer Arbeit aus der Perspek-tive einer kritischen Gemeindepsychiatrie auseinander. Ganz besonders relevant erscheint hier seine Auseinandersetzung mit der »Krise der Normalität«. Mit klar gesellschaftstheoretischem Bezug thematisiert Keupp die Auflösung stabiler Normen im globalisierten Netzwerkkapitalismus, die im Zusammenhang mit der Pluralisierung von Lebensweisen, Individualisierung u. v. a. m. Hierdurch werden nicht nur traditionelle Definitionen von »Krankheit«, »Abweichung« oder »Normalität« obsolet, sondern die »Krise« erscheint auch als eine Krise der Identität. Allerdings bleibt Keupp nicht in der »Krisendiagnostik« stecken, sondern erörtert mögliche Potenziale und entwirft Perspektiven. Sie bestehen in einer Empowerment-Perspektive, deren wesentliches Element in einer solidarisch-kommunitären Individualität besteht. Dies kann durchaus als eine Perspektive praktischen Handelns nicht nur in der Gemeindepsychologie gesehen werden, deren Prinzipien natürlich auch diskutiert werden.
Der zweite Abschnitt behandelt Themen der »Gesundheitsförderung und Inklusion«. Hier schließt der Autor an die vorhergehende Diskussion an und entwirft eine Perspektive, die die alten Unterscheidungen von Krankheit – Gesundheit, Normalität – Abweichung hinter sich lässt und anhand des Capability Approach und der Theorie der Selbstwirksamkeit (Agency) Möglichkeiten aufzeigt, wie Handlungskompetenz jenseits des »unternehmerischen Selbst« (Bröckling) im Zusammenhang mit anderen entwickelt werden kann. Dies liest sich besonders ermutigend, weil Heiner Keupp hier eine Perspektive aufzeigt, die einen Ausweg aus der noch immer vernachlässigten Diskussion um die sog. »Prävention« in der psychosozialen Arbeit eröffnet. Sie liegt eben darin, dass im Rahmen von Gesundheitsförderung die Unterstützung individueller Handlungskompetenz verbunden wird mit kritisch-emanzipatorischer Gemeinwesenarbeit. Hier lohnt sich unbedingt das Weiterdenken!
Im dritten Abschnitt setzt sich Heiner Keup p mit dem Problem des Rechtsradikalismus auseinander. Dieses Thema ist in der letzten Zeit auch für die Sozialpsychiatrie relevant und jüngst von Samuel Thoma thematisiert worden. Hier bietet Keupp zusammenfassende Deutungsmöglichkeiten in der Nachfolge von Erich Fromm, Zygmunt Bauman und Wilhelm Heitmeyer, die einige sozialpsychologische Implikationen enthalten, zum Beispiel für den Umgang mit rechtsradikalen Psychiatrieerfahrenen oder deren Angehörigen – ohne dass sie psychologisierend sind. Er verfolgt hier einen Ansatz, der sich zwischen »therapeutisch motiviertem Verstehen« und »politisch konfrontativen« Aktionen bewegt und damit durchaus auch für den alltäglichen Umgang mit einer entsprechenden Klientel gute Grundlagen bietet.
Im letzten Kapitel thematisiert der Autor sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in Institutionen. Heiner Keupp ist in den letzten Jahren maßgeblich an der (wissenschaftlichen) Aufarbeitung der vielen Missbrauchsskandale beteiligt gewesen und legt hier seine Reflexionen und Deutungsversuche vor. Ganz bedeutsam sind für mich hierbei seine Reflexionen nicht nur über »Institutionen«, sondern vor allem über die Prozesse von sich als »fortschrittlich« bezeichnenden Institutionen, die in der Selbstzerstörung enden. Dies ist »reflexive Gemeindepsychologie« im allerbesten Sinne. Sehr erhellend!
Insgesamt wird einmal mehr in diesem Reader eine relevante praktische Perspektive verfolgt, die zeigt, dass gute Praxis einer fundierten, kritisch-emanzipatorischen Theorie bedarf. Beides legt Heiner Keupp in diesem, sich nicht nur an psychologische Profis wendenden Reader vor. Darüber hinaus macht er Hoffnung, denn eins ist sicher: Einmischen, es geht nicht anders!
Christian Reumschüssel-Wienert in Sozialpsychiatrische Informationen
Letzte Aktualisierung: 01.08.2022