Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie
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Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen
Psychiatrie Verlag

Geschäftsmodell Gesundheit

Das Gesundheitswesen befindet sich in einem großen Transformationsprozess. Bei dieser Umstrukturierung erfolgt im Kern eine »ökonomische Überformung« (S. 14) der Medizin. Die Logik der Ökonomie überschreibt hierbei sukzessive die Logik der Medizin, sodass mehr und mehr die ökonomische Sichtweise das Tun der Ärzte bestimmt. Und schlimmer noch: Dieses Denken mitsamt seiner andersartigen Wertehierarchie wird von den Akteuren im Gesundheitswesen fast unbemerkt übernommen und verinnerlicht!

Am Ende dieses Prozesses steht eine gänzlich andere Identität der Ärzte: Sie sind zum medizinischen Dienstleister geworden, gebunden an zweckrationale Vertragsbeziehungen und abzuleistende Gesundheitspakete. Und – dieser ökonomischen Logik folgend – steht ihnen ein zum »Kunden« mutierter Patient gegenüber und nicht mehr ein krankes, notleidendes und auf Hilfe angewiesenes Individuum.

Die weitreichenden Implikationen dieses Veränderungsprozesses beschreibt mit großer Besorgnis und in einer höchst sensiblen Sprache (allerdings auch mit hoher Redundanz) der Inhaber des Lehrstuhls für Medizinethik an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Giovanni Maio. In zehn Kapiteln breitet er vor dem Leser eine detaillierte Analyse dessen aus, was da seit knapp 30 Jahren in unserem Gesundheitssystem vor sich geht. Und an dessen Ende eine andere Medizin mit anderen Akteuren stehen wird bzw. in Teilen heute schon steht.

Die konkreten Auswirkungen auf die Praxis der Medizin (Kap. III) beinhalten z.B. eine andere Aufnahme in die Klinik bzw. Entlassung aus ihr (unter auch budgetbezogenen Gesichtspunkten), einen Verlust der Ganzheitlichkeit in der Diagnostik (die sich DRG-orientiert auf die Hauptdiagnose konzentriert und Nebenbefunde ausblendet) und eine Fraktionierung der Therapien (da es wirtschaftlich mehr bringt, Behandlungen aufzuteilen, statt gleichzeitig vorzugehen). Vor allem aber wird unter dem ökonomischen Mini-Max-Prinzip am Arzt-Patienten-Kontakt selbst gespart: Zeitkontingente bestimmen zunehmend die Kontakte, sodass die ärztliche Behandlung zu einer technischen Reparatur verkommt und für Begegnung kaum noch Zeit bleibt. »Beziehung« aber, sagt Maio, »ist nicht ein idealistischer Luxus, sondern Grundlage der Therapie« (S. 41).

Als Leidtragende einer solchermaßen ökonomisch simplifizierten Medizin, die nicht mehr den ganzen Menschen sieht und die psychosoziale Dimension des Krankseins ausblendet, sieht der Autor vor allem die Schwächsten: alte und schwerkranke Menschen. Denn sie sind es, mit denen sich der Aufwand nach betriebswirtschaftlicher Logik nicht rechnet. Marginalisierung, (drohende) Exkludierung und Entsolidarisierung lauten hier die Schlagworte.

Aber auch die Ärzte selbst werden von solch einem System beschädigt. Sie, die einst ihren Beruf wählten, um sorgend für kranke Menschen da zu sein, werden unter die ökonomische Logik gezwungen, subtil diszipliniert und für eigenständiges ärztliches Engagement faktisch bestraft. Zum Quasi-Mitunternehmer degradiert, verlieren sie ihre Identität und den Sinn für ihre ärztliche Tätigkeit.

Den radikalen Kurswechsel im System zeichnet wohl am treffendsten das vom Pädagogen Otto Speck übernommene Bild eines »Sozialgefährts«, bei dem die Achsen ausgetauscht wurden: Die steuernde Vorderachse der neuen Medizin ist nicht mehr, wie früher, die am Patienten ausgerichtete soziale Orientierung, sondern das »ökonomisch beherrschte Qualitätsmanagement« (S. 52). Maio schlussfolgert: Ein solches Gefährt »bricht auseinander, wenn die Ökonomie die Richtung angibt« (S. 53).

Es ist eine Verkümmerung und Veroberflächligung, die Maio dieser sich selbst »modern« gebenden Medizin attestiert. In ihrem funktionalen und zweckrationalen Zugang zum Patienten werde das Wesentliche ausgeklammert: »die Qualität des Zuhörens, des In-Beziehung-Tretens, des Sich-einlassen-Könnens« (S. 80). Zwangsläufig gehe in solch einem marktrationalen System, in dem der Arzt »zum Ingenieur für den Menschen gemacht werde« (S. 83), das Vertrauen verloren. Der Patient fühlt sich als Mensch im Stich gelassen!

In der Summe konstatiert Maio, dass sich die Medizin »von ihrem genuin helfenden, sozialen Auftrag entfernt« habe (S. 145). Das ärztliche Grund-Credo »Wir wollen kranken Menschen helfen« (S. 124) sei ausgehöhlt und von einer dem freien Arztberuf fremden ökonomischen Logik überformt. So werde zunehmend ökonomisch und nicht medizinisch entschieden. Das aber stelle eine »subtile Umprogrammierung des Berufsstandes« dar (S. 152). Folgerichtig fordert Maio am Ende seines Buches eine Umorientierung, welche die vier Grundlagen der Heilberufe berücksichtigt: zunächst Zeit und die Möglichkeit, Aufmerksamkeit zu geben; dann als Basis das Gespräch; und schließlich Wertschätzung.

Hehre und richtige Ziele. Nur weist nichts darauf hin, dass sie seit ihrer Formulierung vor nunmehr schon sechs Jahren Niederschlag in den Strukturen der gegenwärtigen Mainstream-Medizin gefunden haben. Im Gegenteil, die Entwicklung der Medizin hin zur Gesundheitswirtschaft scheint unaufhaltsam voranzuschreiten. Mit welch schmerzlichen Nachteilen das verbunden ist, zeigt nicht zuletzt die aktuelle Corona-Krise auf.

Jürgen Karres in Soziale Psychiatrie

Letzte Aktualisierung: 26.04.2024