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Psychiatrie Verlag

Angst und Politik – Sozialpsychologische Betrachtungen zum Umgang mit Bedrohungen

Die großen politischen Krisen der letzten 40 Jahre können auch als »Wellen der Angst« beschrieben werden. Vorgenommen wird dies in Form einer sozialpsychologischen Betrachtung von dem renommierten Psychologen Klaus Ottomeyer, der lange Jahre an der Universität Klagenfurt lehrte. Neben seiner wissenschaftlichen Tätigkeit ist der Autor, selbst Jahrgang 1949, auch als Traumatherapeut und Obmann am österreichischen Forschungs- und Beratungszentrum für Opfer von Gewalt ASPIS tätig, insbesondere für traumatisierte Geflüchtete.

Das Buch sieht sich Ängste in ihrem historischen Kontext näher an, beginnend im Teil I mit der Angst vor dem Atomkrieg in den 1980er Jahren und dann fortschreitend über andere große Krisen (Tschernobyl, den 2. Golfkrieg, die Jugoslawienkriege, den 11. September 2001 etc.) bis hin zu Syrien, der Angst vor islamistischem Terror und schließlich Ängsten in der Flüchtlingskrise und der Angst vor dem Autoritarismus Trump‘scher Prägung. Die jüngste Welt- und Angstkrise nach dem Putin-Überfall auf die Ukraine enthält das Buch, dessen Manuskript gegen Ende 2021 beendet wurde, nicht mehr.

In der politischen Behandlung all dieser Krisen ist Angst sicherlich ein stark unterbelichteter Faktor. Ottomeyer stellt diese meist unerwünschte, aber doch stets vorhandene Emotion hingegen in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. Ziel seines Buches ist es, sich »auf das differenzierte Zusammenspiel der menschlichen Ängste einfühlsam einzulassen« (S. 8). Womit von Beginn an auch deutlich wird, dass hier nicht einfach debattiert werden kann, »ob viel oder wenig Angst gut ist«, sondern dass man stets »die ganz unterschied-liche Qualität menschlicher Ängste« (S. 9) einbeziehen muss.

Diesbezüglich orientiert sich der Autor im gesamten Buch an der Freud‘schen Unterscheidung von Realangst, Gewissensangst und neurotischer Angst – den »drei großen Ängsten«, die er in Teil II ausführlich theoretisch behandelt und nachfolgend psychoanalytisch auf die Flüchtlingskrise und Fremdenangst anwendet. Teil III des Buches widmet sich dann noch ergänzenden Aspekten wie der »Angst vor Empathie«, der »Angst in der Coronakrise« etc. und endet mit dem Kapitel »Was tun?«.

Als Rezensent, der derselben Generation wie Klaus Ottomeyer angehört – wenngleich ein knappes Jahrzehnt jünger –, sieht man beim Lesen die Bedrohungsszenarien seines Erwachsenenlebens gleichsam nochmals an sich vorbeiziehen. Und steht erneut vor der auch heute wieder aktuellen Frage: Wie umgehen mit der Angst?

Ottomeyer arbeitet hierzu zwei sich gegenüberstehende Strategien heraus: mitfühlend-besorgt, gewissermaßen »angstoffen«, versus Abwehr/Verleugnung von Angst in einer kontraphobischen Haltung. Für die Friedensbewegung der 1980er Jahre war hierbei unter der Führung des Arztes Horst-Eberhard Richter ein neues positives Verständnis von Angst kennzeichnend: Angst wurde nun als »grundsätzlich funktionale Emotion« angesehen, die Menschen auffordert, die »soziale Blickrichtung Geängstigter ernstzunehmen«, und diesen sogar eine gewisse »Hellsichtigkeit« zugesprochen. Womit nicht nur im Individuellen und der Familie, sondern auch hinsichtlich globaler Ängste eine vollkommene Umbewertung, ja eine »kulturelle Aufwertung der Angst« erfolgte. In der Summe: »Angst hilft uns, die Welt besser zu verstehen« (S. 26 f.). Dem stand Soziale Psychiatrie 177, Heft 03/2022 REZENSIONEN PLUS weiter der starke, militante Mann (Rambo!) mit seiner zwanghaften Abwehr von Angst und Schwäche gegenüber.

Auf der anderen Seite wurde mit Angst auch Politik gemacht. Beispielsweise mit der traumatischen Angst von 9/11, wo berechtigte Realangst in eine vornehmlich neurotisch-paranoide Angst transformiert wurde. Die Angst der Bevölkerung kann mithin auch missbraucht werden! Hilfreicher wäre es allemal, die intuitive Angst (das Bauchgefühl) durch logisch-statistische Betrachtungen zu ergänzen und dann im Zueinander beider Funktionen zu einer realistischen Angsteinschätzung zu gelangen (s. S. 76).

Die Angstgeschichten, die beispielsweise mit den Flüchtlingen aus Syrien in unseren Kulturkreis eindrangen und in ihrer Grausamkeit kaum aushaltbar waren, brachten auch eine »Erschütterung der Grundannahme, dass man sich auf das Gute im Menschen grundsätzlich verlassen kann« (S. 81), mit sich. Nicht nur für die Betroffenen, auch für Helfer und Behandler stellte das eine große Herausforderung dar.

In der deutschen Bevölkerung führte das teilweise zu einer »Empathie-Abwehr« und in einer weiteren projektiven Umformung auch zu Hasspropaganda bis hin zu Brandanschlägen auf Flüchtlingsunterkünfte und Angriffen auf Geflüchtete. Erst allmählich ebbte die extreme Angststimmung in Deutschland nach 2015 dann wieder ab. Von rechtspopulistischer Seite wurden zuvor immer wieder gefährliche »Paketlösungen als Extremvereinfachung der Komplexität« in einer »Kombination aus Heilsversprechen und Sprengstoff« (S. 118) angeboten.

Hierzu zitiert der Autor den Kulturwissenschaftler Wolfgang Eismann, der sagt: »Während die Psychoanalyse die Ängste des Einzelnen aufklärt, um ihn mündiger zu machen, soll Rechtspopulismus die Ängste aller bestärken, um sie unmündig zu machen« (S. 131). Der hilfreiche Umgang, den Ottomeyer selbst empfiehlt, liegt in einer guten Unterscheidung der schon genannten drei großen Ängste, sodass reale Angst – zu der es ja unzweifelhaft immer wieder Anlass gibt – nicht unlauter in paranoid-neurotische Angst verwandelt wird; und Gewissensangst sich über ein freundliches (anstelle eines strafenden) Über-Ichs als capacity of concern, also als »der Fähigkeit, sich um andere zu sorgen [und mit] ihnen verbunden« zu sein, äußert. Er spricht vom »Engel der Empathie« (S. 154) anstelle eines Abwerfens des Gewissens, mit dem neue narzisstische Führer den Menschen eine höchst zweifelhafte Freiheit versprechen. Insbesondere warnt Ottomeyer davor, den »Fremden [zum] Container für verpönte Regungen« (S. 170) zu machen, und klärt psychoanalytisch über die zugrunde liegenden Mechanismen auf.

Am Ende des Buches steht – wie schon oben erwähnt – das Kapitel »Was tun?«. Ottomeyers Antwort auf diese Frage ist die einer »praktikablen Balance zwischen Anpassung und Widerstand« (S. 258). Und die daraus abgeleitete Hoffnung, mit so einer Haltung, die auch beinhaltet, es sich selbst trotz aller Nöte und Ängste immer wieder gut gehen zu lassen, »unsere Fähigkeit zu stärken, gegen die Systeme der Menschenverachtung und der neurotischen Dummheit anzukämpfen« (S. 260).

Klaus Ottomeyer ist in einer höchst bedrohlichen Zeit, in der wir seit dem 24.02.2022 vor neuen großen Ängsten stehen, ein höchst differenziertes Buch gelungen, das Orientierung – und ja: auch Trost gibt. Denn man sieht sich in einer durch den Ukrainekrieg remilitarisierten Welt ein Stück besser gewappnet, die Gegenwart und Zukunft psychisch zu bewältigen. Und es bleibt die große Freude, dass es noch immer Sozialpsychologen gibt, die sich dem Dickicht der schier undurchdringbar gewordenen Welt zuwenden, es intellektuell-human durchdringen und zusätzlich als Praktiker selbst Hand anle-gen, um die real existierenden und täglich erneuerten Grausamkeiten wenigstens ein Stück weit abzumildern.

Jürgen Karres in Soziale Psychiatrie

Letzte Aktualisierung: 26.04.2024