Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie
Dachverband Gemeindepsychiatrie
Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen
Psychiatrie Verlag

Damit Krankheit nicht heillos verwaltet wird

Dr. Gertraude Ralle, Jg. 1940, legt ein sehr aktuelles Buch vor, dem bereits im Titel anzumerken ist, dass es mit Herzblut und Leidenschaft geschrieben wurde. Das Buch ist sehr gut lesbar, auch deshalb, weil die persönliche Biografie der Autorin mit einfließt. Über 60 Jahre hinweg konnte Gertraude Ralle sowohl das Gesundheitswesen der ehemaligen DDR als auch – ab 1983 – das bun-desdeutsche Gesundheitswesen beobach-ten, dessen Vorzüge sie zunächst durchaus positiv erlebt. In der psychiatrischen Szene der Bundesrepublik gilt sie bald als Vorreiterin gemeindepsychiatrischer Versorgung. Ab Ende der 1980er-Jahre ist sie jedoch zunehmend von den einsetzenden Entwicklungen irritiert. In ihrer Funktion als leitende Ärztin zweier autonomer psychiatrischer Tageskliniken bekommt sie hautnah mit, wie die Verhandlungen mit den Kostenträgern allmählich immer schwieriger werden, kaum mehr Kompromisse im Patienteninteresse ausgehandelt werden können und wie die angeblich unvermeidlichen Sparzwänge die Leistungserbringer quasi zu »Befehlsempfängern« werden lassen.

Sie erlebt wie unter dem Deckmantel von Qualitätssicherungsmaßnahmen die Qualität der Arbeit sich zunehmend verschlech-tert, und wie ab 1991 die Hoffnung auf eine bedarfsgerechte Versorgung durch die Psychiatrie-Personalverordnung enttäuscht wird, da sie nicht in die Praxis umgesetzt wird. Stattdessen wird ein neues Vergütungssystem (PEPP) eingeführt, das die Versorgung nicht verbessert, dafür aber zusätzliche Arbeitsplätze für Codierfachkräfte notwendig macht.

Den letzten Ausschlag, das vorliegende Buch zu schreiben, gibt schließlich ein eigener Krankenhausaufenthalt. »Was ich in dieser einen Woche an Missständen erlebte, überstieg alle meine Vorstellungen.« Ihre bisherige Beurteilung der Fehlentwicklungen des Gesundheitswesens, schnell beschrieben als Ökonomisierung und Kommerzialisierung, genügt ihr seit dieser Erfahrung nicht mehr. Das Buch ist der Versuch, Zusammenhänge, Fehlentwicklungen und dahinterstehende Ideologien aufzuspüren, genauer zu verstehen und Hinweise zu geben, in welcher Richtung notwendige Lösungsstrategien liegen müssten.

Im Kontext allgemeiner gesellschaftlicher und soziokultureller Fehlentwicklungen wird beschrieben, wie sehr das Gesundheitswesen inzwischen seinem eigentlichen Auftrag und Wesen entfremdet ist. Als besonders gravierend wird der Verlust einer angemessenen Arzt-Patientenbeziehung identifiziert. Vertieftes Nachdenken und sorgfältige Recherche bringen die Autorin zu dem Schluss, dass die Fehlentwicklungen des Gesundheitswesens untrennbar mit Fehlentwicklungen unserer Gesellschaft zusammenhängen, was zwangsläufig zu der Frage nach den Ursachen führt.

Ihre Analyse der Ursachen liest sich spannend wie ein Krimi. Akribisch werden die verschleiernden Mechanismen der Sprache beschrieben, insbesondere der »willkürliche, inflationäre, mehrdeutige und missbräuchliche« Gebrauch der Begriffe gesund und krank. Aufs Korn nimmt die Autorin ferner die höchst komplizierten Strukturen, Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten sowie die ausufernde Bürokratie, die sich trotz aller Reformbemühungen zum Bürokratieabbau ständig aus sich selbst heraus vermehrt. Nicht zuletzt werden der Machtkampf der Interessenvertreter:innen sowie ein bis ins Absurde übertriebener Kontrollwahn als weitere Symptome eines kranken Gesundheitswesens ausgemacht und – gespickt mit eigenen Erfahrungen aus der klinischen Praxis – präzise beschrieben.

Dem Wertewandel in den Krankenhäusern wird ein besonderes Kapitel gewidmet. Hier haben sich die Zielsetzungen besorgniserregend in Richtung Wirtschaftlichkeit und Renditeerwartung verschoben, der kranke Mensch muss »sich rechnen«. Was die fatalen Nebenwirkungen der Ökonomisierung von Gesundheit betrifft, kommt Ralle zu der Schlussfolgerung, dass die ökonomische Bedeutung der Medizin ihre heilende Funkti-on so weit verdrängt hat, »dass die Medizin heute stärker im Dienst der Wirtschaft steht als umgekehrt«.

Was die Autorin antreibt, ist ein tief empfundenes Verantwortungsgefühl und eine ethisch basierte Grundhaltung. Ihre Verwunderung, ja Verzweiflung darüber, dass der Gesellschaft und insbesondere dem Gesundheitswesen die selbstverständlichsten Grundsätze und Lebenseinsichten abhandengekommen sind, bringt sie dazu, diese in mehreren Kapiteln wieder zur Geltung zu bringen.

Dies gelingt ihr, indem sie das Gesundheitswesen mit einem an schweren Symptomen erkrankten Patienten vergleicht, dem man mit verschiedenen Behandlungsschritten zur Gesundung verhelfen müsste, Behandlungsschritten, die auf dem hippokratischen Eid oder seiner modernen Version, dem Genfer Gelöbnis von 2017, basieren. Schlicht zusammengefasst bedeutet das: Alles hat dem Wohl der Patient:innen zu dienen.

Diesem Ziel wieder die erste Priorität zu geben, sei allerdings bisher trotz vieler guter Ansätze und vorbildlicher Projekte daran gescheitert, dass hinsichtlich der beiden wichtigsten Fehlentwicklungen des Gesundheitswesens – der »Industrialisierung in den Arbeitsabläufen und der Arbeitsorganisation« sowie der »Ökonomisierung der Versorgung« – der Wille zu konsequenter Umsteuerung fehlt.

Das Buch basiert auf sehr genauer Faktenanalyse der Strukturen und Finanzierungssysteme sowie der Beschreibung aller Mitspieler:innen im Gesundheitswesen, z. B. der Pharmaindustrie, der Versicherungen, der Wirtschaft, der Selbstverwaltungen. Immer wieder wird auch historisch hergeleitet, wie es zu dem derzeitigen Zustand kommen konnte.

Der Vergleich mit der Klimakrise liegt nach Ansicht der Autorin nahe: Alle Tatsachen seien bekannt, würden jedoch missachtet und führten nicht zu den notwendigen Entscheidungen und Handlungen. Letztere werden von zahlreichen Verbänden, Fachgesellschaften und Initiativen schon seit vielen Jahren beschrieben und gefordert, u. a. von dem Bündnis »Krankenhaus statt Fabrik« bereits seit 2015.

Die Schlusskapitel richten sich, entgegen der Erwartung der Rezensentin, nicht mit Vehemenz an die Gesundheitspolitik, die endlich umsteuern müsste, um der Ökonomie die dienende und nicht die dominierende Rolle zuzuweisen, sondern an unser aller Haltung und Handeln im Alltag, sei es als selbst durch Krankheit Betroffene oder als Mitarbeitende. Dass wir als Bürgerinnen und Bürger in welchen Rollen auch immer eine Mitverantwortung haben, ist sicher richtig, allerdings gewinnt hier – bisweilen auch an anderen Stellen – ein wenig der Duktus der »Ratgeberliteratur zu einem guten Leben« die Oberhand. Darauf mögen Leser:innen unter-schiedlich reagieren. Wie dem auch sei.

Dieses Buch ist unbedingt allen Menschen, denen eine Richtungsänderung des Gesundheitswesens am Herzen liegt (oder liegen sollte) zu empfehlen.

Ferner ist es auch für alle Ausbildungsbereiche im Gesundheitswesen bestens geeignet, da es über Zusammenhänge, Strukturen und Akteure mit großer Genauigkeit und gründlicher Recherche informiert und das kritische, für den hilfesuchenden Menschen parteiische Hinsehen lehrt, dies gelingt auf der Basis einer ethischen Grundhaltung und einer wachen Sensibilität für dysfunktionale gesellschaftliche Strömungen.

Nicht zuletzt wäre dringend zu wünschen, dass die Gesundheitspolitiker:innen unserer neuen Regierung es als Anregung und Anweisung zum Handeln in ihre zukünftige Agenda aufnehmen.

Renate Schernus in Sozialpsychiatrische Informationen

Letzte Aktualisierung: 26.04.2024