Nicolas Rüsch, Professor für Public Health, gelernter Philologe und Oberarzt an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Ulm in Günzburg, hat ein zwar nur wenig spektakuläres, dafür aber eminent wichtiges Buch verfasst, dass vom Psychiatrieerfahrenen bis hin zum Leitartikler einer Tageszeitung höchst unterschiedliche Leser finden wird. »Das Stigma psychischer Erkrankung« ist vielschichtig angelegt durch den Bildungshintergrund des Verfassers und durch seine internationale Berufserfahrung – der für die Stigmaforschung sowie für die Patientenrechte so bedeutende Patrick Corrigan in Chicago ist sein Lehrer und Freund.
Das Buch hat den Charakter eines gelungenen und handlungsorientierten Nachschlagewerks, bei dem man auch einmal umblättern darf, ohne dass es langweilig wird. Das Inhaltsverzeichnis weist nach einer knappen Einleitung folgende Themen aus: Historische und Soziale Kontexte, Was ist Stigma?, Folgen von Stigma, Menschen mit verschiedenen psychischen Erkrankungen und deren Angehörige, Persönliche Perspektiven, Stigma in verschiedenen Gesellschaftsbereichen, Abbau öffentlichen Stigmas, Strategien gegen Selbststigma, Abbau von Stigmabarrieren, Abbau struktureller Diskriminierung.
Zur Verstärkung hat sich der sympathisch bescheidene Schwabe, der es versteht, schwierige Sachverhalte leicht zu erklären, und der in seiner Jugendzeit selbst erhebliche Krisenerfahrungen in Form einer Angststörung machen musste, weitere Autorinnen ins Boot geholt wie die Psychiatrieerfahrene und Selbsthilfeaktivistin Martina Heland-Gräf und die Angehörigenvertreterin Janine Berg-Peer.
Es gehört zum Wesen eines kulturell verbreiteten Stigmas, dass stigmatisierte Personen ständig damit rechnen müssen, Vorurteilen und Diskriminierungen zu begegnen. Viele haben persönliche Erfahrungen mit Diskriminierung gemacht. Bei Rüsch liest sich jeder Satz gestochen scharf, so als gebe er die Lebenswirklichkeit der Betroffenen unmittelbar wieder. Er zeigt zudem, dass die Situation für die Opfer von Diskriminierung besonders schwer zu ertragen ist, wenn den Tätern überhaupt nicht bewusst ist, dass sie die betroffene Person abwertend und demütigend behandelt haben. Im Gegenteil. Sie sind selbst von ihrer aufrichtigen Haltung überzeugt und verhalten sich daher schamlos.
So berichtet Martina Heland-Gräf, Mitglied des Landesvorstands der Psychiatrieerfahrenen in Bayern, wie sie Stigmatisierung leider auch in den eigenen Reihen, unter Betroffenen, erlebte. Nach außen getragene politische Einstellungen und innere Haltungen waren im Umfeld der Selbsthilfe auseinandergeraten, sodass für die gelernte psychiatrische Fachkrankenpflegerin ihr Engagement zur Zerreißprobe wurde. Als ehemalige Mitarbeiterin in einer Psychiatrie erfuhr sie in ihrer Doppelrolle nicht selbstverständlich Akzeptanz und dadurch kam ihre Selbsthilfearbeit auf den Prüfstand. Ihr Beispiel zeigt aber auch, dass man sich gegen eine Stigmatisierung durch Beschämung dann erfolgreich wehren kann, wenn man aus der Selbsthilfe selbstbewusst heraustritt.
So lange Psychiatrieerfahrene die Pflege als Aufsichtspersonal erleben und Pflegende Psychiatrieerfahrene als gefährliche Wesen ansehen, sollten wir darauf bauen, dass Selbsthilfe, Trialog und EX-IN-Bewegung in fantasievollen Aktionen und Beschäftigungen den Weg zu einer veränderten Psychiatrie weisen. Dabei sollten sich Psychiatrietrialoge Gesprächen mit anderen vulnerablen Gruppen öffnen, wie z. B. Emigranten und Obdachlosen, die oft als unberechenbar, gefährlich und parasitär auf infame Art und Weise stigmatisiert werden. In Nicolas Rüsch und seinen Mitstreiterinnen würde dieses Projekt kompetente Ansprechpartner haben.
Andreas Jung in Psychosoziale Umschau
Letzte Aktualisierung: 26.04.2024